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BeitragVerfasst: Sa 5. Aug 2017, 13:58 
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Verfasst: Sa 5. Aug 2017, 13:58 


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 Betreff des Beitrags: Deine Mutter würde heulen
BeitragVerfasst: Sa 5. Aug 2017, 13:59 
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• Deine Mutter würde heulen •

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Wishbone
Richard Siken

 
You saved my life he says   I owe you everything.
You don’t, I say, you don’t owe me squat, let’s just get going, let’s just get gone, but he’s
           relentless,
keeps saying  I owe you, says  Your shoes are filling with your own damn blood,
you must want something, just tell me, and it’s yours.

          But I can’t look at him, can hardly speak,
I took the bullet for all the wrong reasons, I’d just as soon kill you myself, I say.
You keep saying  I owe you, I owe… but you say the same thing every time.
          Let’s not talk about it, let’s just not talk.
Not because I don’t believe it, not because I want it any different, but I’m always saving
and you’re always owing and I’m tired of asking to settle the debt.
          Don’t bother.
You never mean it anyway, not really, and it only makes me that much more ashamed.
There’s only one thing I want, don’t make me say it, just get me bandages, I’m bleeding,
          I’m not just making conversation.
There’s smashed glass glittering everywhere like stars. It’s a Western,[...],
it’s a downright shoot-em-up. We’ve made a graveyard out of the bone white afternoon.
          It’s another wrong-man-dies scenario
and we keep doing it, [...], keep saying  until we get it right… 
but we always win and we never quit, see, we’ve won again, here we are at the place
          where I get to beg for it
where I get to say  Please, for just one night, will you lay down next to me, we can leave our
clothes on, we can stay all buttoned up?

          or will I say
Roll over and let me fuck you till you puke, Henry, you owe me this much, you can indulge me
this at least, can’t you?
  but we both know how it goes. I say  I want you inside me
           and you hold my head underwater, I say   I want you inside me
and you split me open with a knife. I’m battling monsters, half-monkey, half-tarantula,
I’m pulling you out of the burning buildings and you say  I’ll give you anything.
          But you never come through.
Give me bullet power. Give me power over angels. Even when you’re standing up
you look like you’re lying down, but will you let me kiss your neck, baby? Do I have to
          tie your arms down?
Do I have to stick my tongue in your mouth like the hand of a thief, like a burglary
like it’s just another petty theft? It makes me tired, Henry. Do you see what I mean?
          Do you see what I’m getting at?
You swallowing matches and suddenly I’m yelling  Strike me. Strike anywhere.
 I swear, I end up feeling empty, like you’ve taken something out of me, and I have to search
          my body for the scars, thinking
Did he find that one last tender place to sink his teeth in?   I know you want me to say it,[...],
it’s in the script, you want me to say  Lie down on the bed, you’re all I ever wanted
          and worth dying for too

but I think I’d rather keep the bullet this time. It’s mine, you can’t have it, see,
I’m not giving it up. This way you still owe me, and that’s
          as good as anything.
You can’t get out of this one, [...], you can’t get it out of me, and with this bullet
lodged in my chest, covered with your name, I will turn myself into a gun, because
           it’s all I have,
because I’m hungry and hollow and just want something to call my own. I’ll be your
slaughterhouse, your killing floor, your morgue and final resting, walking around with this
          bullet inside me
‘cause I couldn’t make you love me and I’m tired of pulling your teeth. Don’t you see, it’s like
I’ve swallowed your house keys, and it feels so natural, like the bullet was already there,
          like it’s been waiting inside me the whole time.
Do you want it? Do you want anything I have? Will you throw me to the ground
like you mean it, reach inside and wrestle it out with your bare hands?
          If you love me, [...], you don’t love me in a way I understand.
Do you know how it ends? Do you feel lucky? Do you want to go home now?
There’s a bottle of whiskey in the trunk of the Chevy and a dead man at our feet
          staring up at us like we’re something interesting.
This is where the evening splits in half, Henry, love or death. Grab an end, pull hard,
and make a wish.

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Der Inhalt
James und Christian treffen sich vier Monate nach dem Bruch ihrer langjährigen Freundschaft bei einer Hochzeit wieder. Während James einfach nur vergessen will, was in der letzten schicksalhaften Nacht passiert ist, hält Christian daran fest. Die Vergangenheit droht sich zu wiederholen und um die Zeitschleife zu brechen, werden die Karten ein letztes Mal offen auf den Tisch gelegt. Erneut stehen sie vor der Wahl - an Altem festzuhalten und damit mit einer Lüge zu leben. Oder alles zu riskieren, für eine neue Chance.

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Playlist
• Brother – Gerard Way
• Lost on You – LP
• Muddy Waters - LP
• i hate u, i love you – Gnash ft. Olivia O'Brien
• Centuries – Fall Out Boy
• We don't talk anymore – Charlie Puth ft. Selena Gomez
• The Kill – Thirty Seconds To Mars
• The Sharpest Lives – My Chemical Romance
• 505 - Arctic Monkeys
• Speeding Cars – Walking on Cars
• Sleeping With Ghosts – Placebo
• Maps – Maroon 5
• Home – Topic ft. Nico Santos
• Hostage – Sia
• Please Don't Go – Joel Adams
• Who Knew – P!nk


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 Betreff des Beitrags: [JAMES] KAPITEL 01
BeitragVerfasst: Sa 5. Aug 2017, 14:02 
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Registriert: Di 30. Mai 2017, 19:02
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[JAMES] KAPITEL 0 1


Solange ich mich erinnere, habe ich nie Blumen im Haus meiner Eltern gesehen. Trotzdem muss es welche gegeben haben, wenn ich daran denke, dass Dad ständig so tut, als müsste man meiner Mutter ein Geschenk machen – nur weil sie da ist, alles Geschirr noch steht und kein Ohr taub ist, alle Augen trocken.

Ich versuche irgendein Bild wachzurufen, vom Esstisch, mit einer Vase voller Blumen. Aber vor mir bleibt die Realität mit starren Kanten der Rosen, Sonnenblumen und Margeriten, ich mit ihnen in feuchter Wärme, während draußen Eisregen fällt.

»Darf ich helfen?«

»Ja. Ich such was für meine Mutter. Meine Mom«, sage ich, der zweite Teil wie in Autokorrektur. Der Florist beäugt die Sträuße mit zusammengekniffenen Augen.

»Ein Geburtstag? Ein vergessener Geburtstag?« Er reißt gleich drei Sträuße aus zwei verschiedenen Vasen. »Dann muss es etwas besonderes sein, wenn-«

»Nein, einfach so. Einfach so.« Ich nehme gelbe Blüten von unbenennbaren Blumen. »Der hier.«

»Einfach so, das ist ja wirklich sehr nett.«

»Ja, sehr nett.« Ich wiederhole mich zu oft.

Ich gehe zur Kasse und bezahle, als mein Handy klingelt. Die Augenbrauen sehen aus wie sein ganzes Gesicht, als der Florist sie hochzieht und ich mich wegdrehe. Stephan, mein Chef, ist dran.

»Hey«, sage ich. Er lacht ziemlich laut.

»James, mein Guter. Ich hab gehört, New York hat dich zurück. Und, schon wie ein Tourist durch die Straßen gewandert?«

»Fühl mich bisschen so, aber bisher hab ich alles gefunden«, erwidere ich. Es erklingt ein lautes Piepen und dann ein Poltern, als die Kasse aufspringt. Dann ein Klirren, als das Wechselgeld auf den Tresen gelegt wird.

»Das ist die tief verankerte Erinnerung in dir an das zu Hause. Gut, aber ich will mit dir über was anderes reden – es geht um die Weiterbildung.«

»Ja, hab die Papiere gekriegt.«

»Alles ausgefüllt? Ich brauch die Anmeldebestätigung und zwar umgehend, wenn du sie hast.«

»Der ganze Kram liegt bei mir zu Hause.«

»Kopier das und dann bring mir den ganzen Scheiß einfach mit.«

»Alles klar.«

»Gut. Triffst du heut nochmal deinen Vater?«

»Ja, gleich.«

»Dann grüß ihn und sag ihm, er soll mich in Gottes Namen endlich zurückrufen.« Mein Zwerchfell vibriert. Ich kann sogar lachen, ohne dass ich mich selbst ersticke.

»Werd ich machen. Bis dann.« Wir legen auf. Ich nehm das Geld und die Blumen, dann bin raus.

Die Kälte kommt mir wie eine Wand entgegen, an der ich mich überall mit meinem Körper stoße. Vom Regen klebt die Lederjacke auf meinem Körper.

Ich schmeiß sie auf die Rückbank, die Blumen auf den Beifahrersitz. Beim Losfahren schalte ich das Radio ein, wo noch Nachrichten für Phoenix laufen. Sechzehn Grad und Sonne. An einer Ampel schalte ich zurück auf New York. Die Temperaturen knapp unter der Nullgrenze, Blitzeis, Staus.

Die Unterschiede reihen sich in seltsam vertrauter und gleichzeitig fremder Art und Weise aneinander. Ich kenne die mehrspurigen, überfüllten Straßen, die roten Häuser, die von den Autoabgasen immer grau wirken; die kleinen Läden, oben drüber geöffnete Fenster, aus denen Leute starren und andere beobachten – Feuertreppen in den Seitengassen und überfüllte Müllcontainer, aus denen ein abartiger Geruch dringt.

Aber genauso klar und deutlich dringen die Muster des Vertrauten in mich ein, als ich zwischen Häusern hindurchfahre, deren Fassaden besteint und geriffelt sind, unterschiedlich gefärbt – wettergeerbt oder satt, verdunkelt durch den Niederschlag, hell und geschützt durch Vordächer und distanziert vom Wetter durch Terrassen.

Ich stell den Wagen hinter dem von Dad ab. Als ich den Motor ausgeschaltet habe, verharre ich noch einen Moment. Ich starre durch die Windschutzscheibe. Dann zu meinen Händen, die sich in irgendeinem Zustand zwischen dem Vorher und Jetzt befinden. Mir presst was den Sauerstoff aus der Lunge, aber was soll's eigentlich – es war meine Entscheidung. Es ist meine Entscheidung. Es ist von allem immer noch die beste Enscheidung.
Ich steige aus.

Im Vorgarten meiner Eltern sind alle Blumen tot. Zwischen dem Rindenmulch liegt Restlaub vom Herbst. Ich renne unters praktisch Vordach, habe aber noch nicht geklingelt, als die Tür aufgerissen wird.

»James, mein Schatz!«, schreit meine Mutter und wirft sich gegen mich. Ich fange sie auf.

»Hey Mom, ich-«

»Hast du keine Jacke dabei? Deine Arme sind eiskalt. Komm rein.«

Ich gehe in den Flur. Dad kommt die Treppen runter.

»Wo ist deine Jacke?«, wiederholt er als erstes Moms Frage. Wir geben uns die Hand.

»Im Auto, es schüttet wie aus Eimern.«

»Du bist nass trotz Auto?«, hinterfragt Mom sofort. Dad stellt sich neben sie und legt ihr einen Arm um die Schultern.

»Und woher die Blumen?«

»Mein Auftritt is' versaut, Mann, ernsthaft«, entgegne ich und halte meiner Mutter die Blumen hin. Ich erwarte ein Dejá-vù, aber nichts geschieht. Auf ihrem knochrigen Gesicht entsteht eine nach unten gebeugte Linie – ein Lächeln.

»Danke, mein Schatz.« Sie küsst mich auf die Wange. »Ich hole rasch eine Vase. Hast du dann noch einen Moment? Wir haben Kaffee aufgesetzt.«

»Ich würd ja, aber zu Hause wartet Cat.«

»Deine kleine Freundin?«

»Sie's nicht meine kleine Freundin.«

»Man munkelt immer.« Dad macht eine abwägende Handbewegung und sieht Mom nach, als sie in die Küche geht. »Frauen stecken voller Geheimnisse.«

»Wenn du von Mom redest, will ich's nich' wissen.«

»James.« Sein Ton wird schärfer, aber flacht dann ab. Wir sehen uns an.

Heute sehe ich nichts von ihm auf mir, was ich mir manchmal einbilde, wenn mir wieder auffällt, dass ich auch Mom nicht ähnlich bin – sein Haar ist nicht so dunkel wie meins, seine Haut ist blass und farblos im Gegensatz zu seinen Augen, die gleichen, die meine kleine Schwester hat – ein hartes Schwarzbraun, das bei Karen ganz anders aussieht als bei ihm.

In der Küche klirrt Geschirr. Ich drehe mich zur Tür. Dad setzt an.

»Sie hat sich sehr gefreut, als sie gehört hat, dass du wieder zurückkommst. Vor allem nach der ganzen Verwirrung, die du gestiftet hast.«

»Ja, war abgefuckt.«

»Sie wartet immer noch auf eine Erklärung.«

Ich drehe mich nicht zu ihm, sondern stecke die Hände in die Tasche. Sie krampfen auf kleinstem Raum. Das Zerren in meinen Händen dringt bis in meine Brustgegend hervor, durch meinen Arm und meinen Hals hoch.

»Dad, das war der Job.«

»Der Job? So kurzfristig?«

»Ich hab einfach vergessen, es zu sagen.«

»Dass du wegziehst? Hast du vergessen zu sagen? Davon abgesehen, dass du dich in der Zeit höchst seltsam benommen hast; allein deine ganzen Aussetzer.« Er schnaubt. Ich antworte nichts. Dann kommt Mom wieder aus der Küche raus. Sie hat eine Vase.

Ich umarme sie nochmal, ihren kleinen schmalen Körper. Dads Blick ist stechend, aber er nickt die Verabschiedung ab. Mom hält mein Handgelenk noch fest und sieht sich die weißen Narben darauf zu lange an. Ich versuch mich woanders hinzudenken und mir vorzustellen, wie gut der Tag gewesen wäre, wäre ich einfach nicht zu ihnen gefahren.

Aber es wäre kein guter Tag gewesen. Meine Ärmel sind hochgekrempelt. Die Narben sind weiß und stricheln meine gebräunten Unterarme. Ich hab das Geschrei meiner Mutter im Ohr. Plötzlich weiß ich, was mit der letzten Vase passiert ist: im Krankenhaus hat sie sie an die Wand geworfen. Dke Blüten entblätterten;das Wasser traf mit eibem Platschen auf den Boden. Meine Arme waren verbunden.
Es regnet nicht mehr, als ich rausgehe. Ich brauch ein paar Momente, bis ich wieder weiß, wie man den Motor einschaltet.

Ich hab ein Dröhnen zwischen den Ohren und schüttle mehrmals den Kopf, als würde es davon verschwinden. In meiner Brust hängen Gewichte, die mich in das Leder ziehen. Ich setze mich trotzdem auf. Ich fahre los.

Ich nehme meine Sporttasche und meine Lederjacke von der Rückbank, als ich bei meiner Wohnung ankomme. Unten im Treppenhaus stelle ich fest, dass mein Briefkasten geleert worden ist. Ohne dass ich es verhindern kann, zucken meine Mundwinkel. Ich gehe hoch.

Als ich aufschließe, höre ich ein Kreischen. Mit dem Öffnen schmeißt sich etwas gegen mein Bein.

»JAMES, JAMES, JAMES, DU BIST WIEDER DA!«

»Rosi, ICH BIN WIEDER DA!«

»JA, JA, JA!« Sie haftet wie ein Saugnapf an mir. Ich lache viel zu laut, der Druck aus meinem Inneren für kurze Momente aus mir gesprengt. Als sie loslässt, hocke ich mich vor sie, wo sie die Arme um meinen Hals schlingt, ihr warmer Kinderkörper an mich gepresst, mit dem weichen Geruch von Seife und Baby.

»Hab dich sooo vermisst, jetzt gehst du nicht wieder weg oder?«, flüstert sie an meinem Ohr, während ich ihren kleinen Rücken streichle und sie meine Haare unbeholfen tätschelt. »Mama hat gesagt, du gehst nicht wieder weg.«

»Rosi, man.« Meine Finger zittern jetzt. »Deine Mama hat immer recht, also geh ich nich' wieder weg.«

»Das musst du öfter sagen, Großer.«

»Und meine Belohnung dafür?«

»Müssen wir mit dir auch noch in einem Belohnungssystem arbeiten?« Cats Lächeln ist süffisant, als sie sich ebenfalls hinhockt und wir uns genau ansehen. Sie streichelt über den Rücken ihrer Tochter, während wir uns ansehen, das strahlende Graugrün ihrer Augen auf mich fixiert.

»Kannst mir jederzeit ein Belohnungssystem ausarbeiten.«

»Zu gewinnen: Ein ganzen Tag mit Rose allein?«

»JA, MAMA, DAS IST EINE GUTE IDEE!«

Als ich lache, quietscht Rose und küsst mich gegen die Wange. Beim Aufstehen lässt Rose nicht los, also heb ich sie mit hoch. Sie würgt mich leicht, sodass ich ihrer Arme lockern muss. Sie presst ihre Hände gegen mein Gesicht, als wolle sie die Anatomie ändern.

»Jaaames, du bist wieder da-ha-ha-ha«, summt sie. Ich stupse meine Nase gegen ihre Wange und sie quiekt freudig, und rennt ins Wohnzimmer, als ich sie absetze. Ich sehe ihr nach.

»James Baskin hat also beschlossen, dass er dann doch in New York bleibt?«, sagt Cat dazwischen. Ich wende mich an sie. Als sie mich mit gerunzelter Stirn betrachtet, lasse ich die Schultern sinken.

»In Phoenix gab's nichts mehr zu sehen. What the hell ist Phoenix«, spotte ich und schmeiß meine Sporttasche beiseite. Als wir uns umarmen, küsse ich auf ihren Kopf, auf das weiche Blond ihrer kurzen Haare. »Brooklyn für immer und immer.«

»Wie patriotisch.«

»Ja, mega.«

»Nicht die Hochzeit?«

»Hast recht, das war Grund Nummer eins.«

»Klärungsbedarf?«

»Fuck mich nich' gleich ab, Cat«, kriege ich raus und lasse sie los. Sie tritt einen Schritt zurück, ihr ovales, feminines Gesicht verliert einen Teil seiner Nachgiebigkeit. »Ich bin grad angekommen. Hab deine Tochter glücklich gemacht.«

»Das haben Nate und Christian in deiner Abwesenheit übrigens wunderbar hingekriegt.«

Allein beim Klang seines Namens gibt mein Körper mir harte Hiebe – in den Kopf und Magen, dann irgendwo linksseitig, volle Kraft.

Ich antworte nichts, sondern will an ihr vorbeigehen. Sie hält mich am Arm fest. Ich reiß mich los.

»James, was ist los?«

»Ich will in mein Wohnzimmer.«

»Habt ihr euch mal wieder unterhalten?«

»Unterhalt du dich doch mit ihm«, würge ich hervor und dann geh ich weg.

Rose sitzt auf der Couch, die noch in Plastik eingeschlagen ist. Sie blättert in der Werbung und reißt den Kopf hoch, als sie mich hört.

»Jamesjamesjames, guck mal, hier ist meine Schultasche drin! Die hab ich von Mama bekommen, weil ich nächstes Jahr in die Schule gehe und die hier ist voll schön.«

»Scheiße, stimmt. Ich dachte, du musst noch drei Jahre in den Kindergarten gehen.«

»NEIN, ICH BIN GROSS. Ich bin fast so groß wie du!«

»Da fehlen dir noch ein paar Zentimeterchen.« Cat kommt hinter mir rein. Ich setze mich neben Rose, die auf meinen Schoß klettert und mir dann die Reklame ins Gesicht klatscht.

»Guck, ganz viele Tiere!«

»Ein Zoomuster«, fügt Cat hinzu. Ich betrachte mit dramatisch gerunzelter Stirn ihre Schultasche, während Rose mich erwartungsvoll ansieht.

»Rose, Mann – kannst du denn schon in die Schule gehen?«

»Jaaa, kann ich. Hab die Tasche schon getragen und sie passt mir richtig gut!«

»Weißt du auch, was das alles für Tiere sind? Nachher fragt dich jemand und du weißt's nicht.«

Sie sieht mich einen Moment lang so genervt an, dass man sie mit Cat verwechseln könnte. Ich wende mich rasch wieder ab und gebe mir einen Ruck.

»Sieht hammer aus, Rosi.«

»Jaaa! Ich will die auch zu Iris und Nates Hochzeit ummachen!«

»Das ist eine Schultasche, Rose, keine Hochzeitstasche.«

»Ist praktisch das Gleiche«, scherze ich, woraufhin Rose lauthals jubelt und Cat mir einen gereizten Seitenblick zuschießt.

»Nein, ist es nicht.«

»DAS IST EINE HOCHZEITSTASCHE, HAT JAMES ABER GESAGT!«

»James sagt auch, dass dein Geburtstag und Weihnachten an einem Tag sind, damit du das glaubst, Rose.«

»Das hab ich noch nie-«

»Aber wieso kann ich die Tasche nicht mit zur Hochzeit nehmen! Ich muss die noch Iri und Nate zeigen und dann kann ich allen in der Schule sagen, dass das auch eine Hochzeitstasche ist!« Rose Gesicht ist rötlich. Sie verpasst mir in ihrer Furiosität einen Tritt, als sie von meinem Bein herunterklettert. Cat und Rose stützen synchron die Hände in die Hüften, als sich ihre Tochter vor ihre Mutter stellt.

»Wenn du sie für die Hochzeit nimmst, dann kannst du sie nicht mehr für die Schule nehmen.«

»Und das heißt, du kannst an sich nicht mehr in die Schule gehen«, füge ich hinzu.

»DOCH, KANN ICH. Mamaaaa, ich will-«

»Mach keinen Quatsch, Rose, hmn?« Cat küsst sie auf die Wange, woraufhin sich Rose beleidigt abwendet und sich über das Gesicht wischt. Sie rauscht in den Flur.

»Das ist, weil du ihr so ein Scheiß erzählst«, sagt sie.

»MAMA, DU HAST SCHEISS GESAGT!«

»ROSE, HOL DIR WAS ZUM SPIELEN!«

Es poltert im Flur. Ich lache leise und lehne mich zurück, die Arme auf den Lehnen, das Plastik sich langsam von meiner Haut lösend. Das Polster neben mir senkt sich. Ich hab Cats blumigen Geruch in der Nase.

»Ist alles gut bei dir?«

»Na mega«, antworte ich. Als ich den Kopf auf der Lehne drehe, ist ihr kleiner herzförmiger Mund ein bisschen breiter, zu einem weichen Lächeln verzogen, als sie mich mustert.

»Schon aufgeregt auf heute Abend?«

»Nich' richtig. Ich kipp vorher was, dann verkraft ich das«, spotte ich und gucke dann wieder geradeaus, wo sich Rose mit Lego demonstrativ vor der Wohnzimmertür geparkt hat.

»Kein Alkohol für dich, nicht vor heute Abend.«

»Hab genug zu Hause.«

»Und dann willst du noch ein ernstes Gespräch mit Nate, Irina und Christian führen? Nein, nein, ich glaub, dann wirst du wieder furchtbar weinerlich.«

Ich dreh mich weg. Ich stell mir vor, ich hätt ein Kissen, in das ich mein Gesicht reinpressen könnte, Dunkelheit und Druck, gegen den Gegendruck sus meinem Inneren, wenn ich nur seinen Namen höre.

»Lass den Scheiß, Cat«, kriege ich raus. Als ich aufstehen will, krallt sie sich in meinen Unterarm und hält mich auf dem Sofa. Ihre Nägel kratzen rote Muster neben die weißen Linien an meinem Handgelenk. Mein Hirn meldet scharfen Schmerz. Ich spüre gar nichts.

»Wir sollten darüber reden, bevor du hingehst.«

»Worüber willst du reden?«, presse ich hervor und schiebe ihre Hand herunter. »Was is' bei dir?«

»Ich will mit dir über die zehn vergangenen Monate reden, und das weißt du.«

»Jetz'? Dein Ernst? Es war abgefuckt, willst du's hören? Ich hätt' hierbleiben sollen, klingt das noch besser? Ich weiß nicht, was du von mir willst.«

Sie guckt mich einfach nur an, dann dreht sie sich sich weg und beißt sich auf die Lippe. Ich sehe sie an und sie starrt vor sich her. Dann seufzt sie. Als wir uns wieder angucken, sind ihre Augen zusammengekniffen.

»Du willst so tun, als wäre nichts passiert?«

»Soll ich mein Leben wegen irgend'nem scheiß Streit verändern? Es war der Job, Cat. Es kam einfach scheiße zusammen. Er war schon immer 'nen Arschloch.«

»Da lügt mir grad wer mitten ins Gesicht.«

»Hör endlich mal auf mit dem Scheiß.«

»Klärt ihr das heut Abend wegen der Rede?«

»Ja. Ja. Ich mein, ja, na klar, hab ich doch gesagt. Hab ich die ganze Zeit gesagt.«

»Es geht immerhin um Nate und Irina.«

»Ich weiß.«

»Und Christian hat in zwei Wochen Geburtstag.«

Ich starre sie an. Dann guck ich weg. Ich schüttle den Kopf mehrmals, nicht dran denkend, wie oft mir das Datum wie Leuchtreklame ins Auge gefallen ist schon seit Wochen.

»Ich weiß«, sage ich also.

Ich bin letzten Montag in Phoenix aufgewacht und hab mir gesagt, dass es mega gut ist, dass wir uns nie wieder Geschenke machen müssen.

Seitdem hab ich ständig was gefunden, was sich gut eignen würde.

»Christian hat sich da richtig reingehangen. Hat sich viel um Nate gekümmert und war vor Ort. Hat ganz schön viel allein für zwei Trauzeugen gemacht. Er ist dein Freund, James.«

»Ich hab's kapiert.« Ich stehe auf. Rose hebt im Flur den Blick ihrem Lego. »Das wird 'ne Anklage, hab ich recht?«

»Das wird eine Erinnerung daran, dass ich will, dass du was machst«, antwortet sie mir, ohne sich zu bewegen. »Und dabei ist mir ganz egal, wie sehr ihr euch lieb habt oder eben nicht mehr, ist das gut?«

»Ja, man. Sag's immer wieder, misch dich doch ein; wir kommen klar«, weise ich sie ab. Cat reagiert darauf nicht, sondern geht zu Rose. Ich sehe noch zu den beiden, dann kann ich es nicht mehr und fange dann an, die Kisten auszuräumen.

Cat versucht auch danach noch, das Thema zwischendurch anzuschneiden, aber sie geht kurz vor sechs. Danach hab ich noch zwei Stunden, in denen ich nichts mache, außer meine Schränke wieder einzuräumen und die Pflanzen zu gießen, die Irina mir in die Wohnung gestellt hat.

Als ich um acht gehe, glüht das Licht in den Laternen und es fällt Schnee, der nicht liegen bleibt. Den Weg zur Kneipe kenne ich wie die Rückseite meiner eigenen Hände. Ich weiß, wie alle Straßen auf dem Weg dorthin heißen. Ich erinnere mich, wo wir waren – in der Gasse, auf der anderen Straßenseite, Christian und ich, besoffen die Arme ineinandergehakt, uns immer erzählend, wie sicher wir zusammen sind, wenn wir nur so weitermachen wie bisher.

Nichts davon ist geblieben. Deswegen hab ich die Hände jetzt in den Hosentaschen und bin der Abgefuckte von uns beiden, dem die Scheiße nach eineinhalb Jahren wieder einfällt.

Das Neonlicht des Schildes brennt in meinen Augen. Es ist Montag und der Pub ist gerammelt voll – zwischen Studenten gammeln Biker. An der Bar steht die avantgardistische Künstlerszene. Der Stammtisch ist besetzt. Ich hab kein Wort dafür von wem – uns trifft es nicht.

»James, Mann, siehst ja richtig scheiße aus«, begrüßt Nate mich, als wir uns sehen und er mir entgegen kommt. »Woah, ist das 'nen Babyzopf?«

»Hast du 'ne Ahnung, wie bitchig lange Haare sind? Das ist pure Arbeit«, antworte ich und wir geben uns einen Handschlag, bevor wir uns umarmen.

»Sieht halt noch hart schlimmer aus als beim letzten Mal.«


»Hör auf, so fies zu James zu sein. Er sieht total gut aus.« Irina schiebt Nate beiseite ihr blonder Pferdeschwanz hängt in Nates Gesicht, der sich daraufhin wegdrehen muss, als ich seine zukünftige Frau umarme. »Hast du gehört? Du siehst so gut aus. Und du bist so schön braun.«

»Ich könnt' dich in 'nen tollen Urlaub entführen, nur wir zwei«, scherze ich, woraufhin sie kichert und mir einen Kuss gegen die Wange drückt, während ich ihren Rücken tätschle. Sie zieht mich am Arm zum Tisch, als sie antwortet.

»Nein, da hat Nate was dagegen. Und meine Flitterwochen gehen auch nach Jamaika, da werd ich auch braun.«

»Malediven sind tausend Prozent besser als Jamaika«, betone ich und guck die beiden nacheinander an, damit ich niemand anderen ansehe. »Das ist 'nen Urlaubsparadies.«

»Urlaubsparadies is' es, wo ich mit Irina bin, nich', Irina?« Nate zieht sie an der Taille zu sich. Ich imitiere Würgegeräusche. Christian redet. Seine Stimme dringt gewaltsam in meinen Kopf und tröpfelt von dort aus überall in meinen Körper, sodass mein Herz in meinem Brustkorb wie ein wildes Tier um sich schlägt und tritt.

»Ich glaub, wenn's nur schüttet, dann hilft auch deine Anwesenheit Irina nicht beim Bräunen.«

»Das glaub ich allerdings auch. Aber dann ist es mir auch egal.« Sie lehnt sich bei Nate an und er flüstert ihr was ins Ohr. Ich wende mich also ab. Ich schüttle mich schon. Ich will umkehren. Ich will wieder zurück. Mein Puls pocht hart in meinen Adern. Es ist strangulierend – aber ich guck zu Christian. Er guckt zurück.

Er lächelt. (Gequält.) Ich nicht. (Ich weiß nicht, ob er gequält ist: Ich will es gar nicht wissen.)

»Hey. Mann«, sagt er. Ich sage: »Hi.«

Er hält mir die Hand hin. Ich schüttle sie. Ich ignoriere das harte Stechen und Krampfen, das Summen zwischen meinen Ohren.

Meine Hand ist Gott sei Dank so taub von der Faust, die ich so lange in der Hosentasche geballt habe, dass ich seine Haut nicht richtig spüre.

Dann drehen wir uns synchron wieder voneinander weg. Ich sag zu Irina: »Man, ich freu mich, dass ich dich endlich wieder sehen kann.«

»Ich freu mich auch.« Sie seufzt tief, als sie mich anguckt, der Blick ihrer großen runden Augen fährt über mein Gesicht. »Das ist so lange her. Wie lief der Umzug?«

»Läuft mega. Wie ist's mit der Hochzeit?«, sage ich. Sie wirft einen Blick zurück zu Nate, der grad an der Bar ist.

»Sehr gut. Nate ist total aufgeregt, glaube ich.«

»Ist er«, antwortet Christian. Ich sehe zu Nate und hoffe, dass er was Hochprozentiges mitbringt. »Er liebt dich halt. Er macht sich schon die ganze Zeit verrückt, damit bloß nichts schief geht.«

»Ja, momentan ist es echt stressig. Dabei haben wir früh angefangen.«

»Am Ende ist es sowieso immer am stressigsten. Letzte Vorbereitungen und so.«

Christian kapiert alles. Er tut mir wenigstens den Gefallen, dass ich somit nichts sagen muss.

Nate hat nur Bier geholt. Ich stoße mit meinem mit Irina und ihm an. Dann kippe ich es schnell hintereinander.

»So, Boyz.« Nate räuspert sich. »Habt'a schon was zueinander gesagt?«

»Nicht wenn du grad danebenstehst, damit du alles weißt«, antwortet Christian glatt. Ich will mehr trinken, aber meine Flasche ist schon leer.

»Und du uns am besten noch nützliche Tipps gibst. Kann ich heut voll haben«, werf ich ein.

»Kannst immer nützliche Tipps von mir brauchen, Mann.«

»Dafür hab ich ja andere Hilfe, die alles gemacht hat.«

»Da hast du recht, und deswegen hörst du jetzt auf, so zickig zu sein.« Irina zieht die Nase kraus. Ich gebe mir einen Ruck, und verkneife mir einen Kommentar.

»Wir können euch fünf Minuten alleine lassen, wenn ihr wollt.«

»Habt ihr doch eh schon beschlossen«, antworte ich. Ich sehe Christians Hand aus dem Augenwinkel, die an der Flasche krampft.

Nate verdreht die Augen. »Nu mach dir nich' ins Hemd, du wusstest-«

»Ist doch okay, Nate. Alles klar. Haut ab.« Christians Stimme bebt.
Ich sage: »Ich geh mir noch was holen, geht das durch?«
Christian sagt: »Geht voll durch.«

Ich hol mir noch ein Bier und ein Shot. Als ich zurückkomme, sind Nate und Irina nicht mehr da. Christian steht noch da. Seine Hände zittern, während er an seinem Handy spielt. Mein Herz schlägt mir bis in den Hals. Meine Handflächen kribbeln.

Ich stelle die Flasche und das Glas auf dem Tisch ab. Christian macht den Kopf hoch. Wir gucken uns an. Seine Augen sind immer noch hellblau. Er ist immer noch so blass, dass er fast weiß ist. Sein Haar ist immer noch blond. Ich fühl mich wie in einer Zeitschleife.

»Hast du alles?«, fragt er mich und guckt dann auf die Getränke. »Für 'nen fünf Minuten Gespräch?«

»Ist das 'ne ernstgemeinte Frage oder willst du mich abfucken?«, frage ich dagegen. Er guckt mich an. Ich guck weg.

»Ernstgemeinte Frage.«

»Dann ja: hab alles.«

»Toll.«

Wir schweigen. Der Tisch zwischen uns ist nicht genug Distanz. Ich seh uns beide ständig vor meinem geistigen Auge aufblitzen, auch wenn ich schon Sterne vom Licht seh, in das ich starre.

»Gibt nur ein paar Sachen.« Christian setzt an, als ich den Shot kippe. Ich guck auf den Tisch. Seine Hand zuckt, als ich das Glas abstelle, dann wird sie eine Faust, dann verschwindet sie unter der Oberfläche. »Wir müssen die Rede machen und nochmal Junggesellenabschied durchgehen.«

»Hast du da schon was?«

»Wo?«

»Bei beidem? Erzähl mir keinen Scheiß, dass du dir noch nix ausgedacht hast, als ob du's so stehen lassen könntest«, spotte ich. Ich kippe das Bier. Der Geschmack wird schal in meinem Mund. Christians Gesicht verzerrt sich.

»Soll ich dir die Scheiße jetzt beantworten? Meinst du das Ernst oder nicht?«

»Ich mein's ernst. Das ist 'ne stinknormale Frage oder?«

»Dann: ja, ich hab beim Junggesellenabschied was. Bei der Rede nicht. Die müssen wir beide schreiben. Kann ich nicht allein.«

»Soll ich's dann machen?«

»James, Mann.« Christian schluckt laut und wendet sich dann ab. Ich auch. Ich suche automatisch nach dem Schild für den Ausgang. »Nicht allein.«

»Ok. Ja.« Ich würge an meinem Atem. »Ich kapier's. Rede. Klaro. Schreiben wir.«

»Okay. Machen wir. Du … Kannst mir ja schreiben. Hast du … Meine Nummer noch?«

Ich hole mein Handy raus. Ich löse die Tastensperre und öffne das Telefonbuch. Ich lege es vor ihm hin.

»Speicher sie ein.«

Er verzieht keine Miene. Ich geh mir noch Bier holen. Als ich zurückkomme, ist der Bildschirm meines Smartphones wieder schwarz. Christian guckt mich nicht an.

»Kein Bild im WhatsApp?«, fragt er lahm. Ich zucke mit den Schultern. Ich lösche ihn aus dem gesperrten Nummern. Ich fühl mich, als würde ich wieder einen Schritt zurück machen, als ich sein Profilbild sehe. Er in Santa Catalina. Ich hab das Bild gemacht.

»Doch 'nen Bild«, antworte ich. Er sagt nichts. Ich trinke das Bier. Er holt sich auch eins. Als ich die Flasche wieder ansetze, sehen wir uns an. Er zögert. Ich auch. Dann sehen wir doch wieder woanders hin. Die Wärme seiner Haut kriecht in meine Jackenärme. Sie kriecht in meine Jacke. Der Alkohol klettert in meinen Kopf. Christians Stimme dazwischen. Und ich erinnere mich an alles.

»Wie läuft der Umzug?«, fängt er dann an. Ich kippe drei Schlucke auf einmal. Als ich rede, trinkt er immer noch.

»Scheiße. Alles voller Kisten. Muss alles hier rüber bringen. Irgendjemand muss immer zu Hause sein.«

»Wie war Phoenix?«

»Das Wetter war besser. Alles viel besser als hier.«

Er setzt die Flasche ab. Dann würgt er kurz und reibt sich über die Augen.

»Glaub ich sofort.«

»Was is' mit Tory?«, frage ich. Ich starre auf das grüne Glas. Ich denk genau daran, wie sie aussieht. Dabei fällt mir auf, dass ich vieles an ihr schon wieder vergessen habe – dass ich praktisch nicht mal sicher weiß, wie sie überhaupt aussieht. »Seid ihr noch zusammen?«

»Ja. Wir ziehen auch um.«

»Oh.«

»Ja. Nerviger Prozess. Geht nicht voran. Sie will unbedingt nach Manhattan. Ich will nicht aus Queens weg. Im Zweifel lass ich mir Brooklyn gefallen. Aber nicht Manhattan.«

»Man.« Ich lache rau auf und erkenne meine eigene Stimme nicht. »Manhattan is' so potthässlich.«

»Sag ich ihr auch immer. Und es gibt keine Parkplätze. Ich glaub, sie will, dass ich mein Auto aufgebe.«

»Dann mach's.«

»Nein. Nein, man, niemals mein Auto.«

Ich lache immer noch, wenigstens ein heiseres Glucksen.Wir gucken uns nicht an.
Meine Beine wollen mich wegtragen. Nach Hause, zwischen den Kisten durch, die Decke über den Kopf ziehen und verschwinden. Nach Hause, ein anderes Konzept: Ins Auto, nach Phoenix und mich in die leere Wohnung setzen, wo's immer noch besser ist als hier mit ihm.

Nate und Irina kommen zurück. Ich verabschiede mich von den beiden. Ich verabschiede mich sogar von Christian. Dabei gucken wir uns direkt ins Gesicht. Ich will mich an irgendwas aufschlagen, als ich nur die satte Farbe seiner Augen wiedersehe, die vertraute Kurve seines Halses zu seinen Schultern, wo so oft mein Kopf lag. Ich kenn das kleinste Muttermal an seinem Genick und weiß von Weitem genau, wie's von nahem aussieht.

Er sagt nochmal, ich soll Bescheid sagen. Ich werd Bescheid sagen. Ich sag ihm schon Bescheid, wann.

Ich geh nochmal zur Bar und hole mir nochmal was zu trinken. Ich kenne die Kleine, die mit ihren Freundinnen dasteht, auch wenn ich mehr weiß woher. Wir trinken was, wir reden noch. Wir gehen woanders hin. Sie will noch mehr reden. Wir saufen. Ich versprech ihr, dass wir später mehr reden werden, morgen früh, wir könnten Frühstück essen – wir fahren also zu ihr. Ich bin betrunken, sie ist betrunken, sie macht die Beine breit, ich fick sie. Ich fahre nach Hause und fall im Flur über die Kisten. Ich bin so besoffen, dass ich das erste Mal seit Monaten Christian wieder anrufen will, aber einschlafen will.

Ich bin zu Hause angekommen.


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 Betreff des Beitrags: [CHRISTIAN] KAPITEL 02
BeitragVerfasst: Sa 5. Aug 2017, 14:15 
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Registriert: Di 30. Mai 2017, 19:02
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[CHRISTIAN] KAPITEL 0 2


Unter meinen Füßen knirscht es, als ich über die dünne Schneeschicht auf dem Laub laufe. Das erste Mal seit Monaten kriege ich wieder das sehnsüchtige Gefühl nach einer Zigarette. Zwei Züge paffen, den Kopf gegen eine kalte Baumrinde gelehnt, die Luft rauslassen, neue wieder reinlassen. Ruhe gewinnen, das Chaos draußen lassen, mich an die Dinge erinnern, die ich mir geschworen hab. Immer wieder, in den letzten Monaten.

Aber ich hab keine Sekunde Pause: In der Entfernung seh ich schon die gelben Absperrbänder des FBIs und ein Stück weiter Valerie, die sich mit Freyer unterhält. Ein paar Leute von der Spurensicherung sind unterwegs und schießen Fotos, befestigen noch mehr Bänder.

Angespannt fasse ich mir über's Gesicht. Mehr Schlaf. Heute Nacht versuch ich's nochmal, vielleicht krieg ich den Kopf dann ein bisschen frei.

Danach geh ich rüber zu meiner Partnerin und meinem Chef, die mich schon auf zwei Meter Entfernung sehen. Ich hebe die Hand aus der Hosentasche zur Begrüßung.

»Im Zeitrahmen.«

»Knapp.« Valerie lächelt etwas, als sie mich sieht und legt den Kopf schief. Ich hebe glucksend die Schultern.
»Im Zeitrahmen.«

»Sind Sie informiert, Redford?«, schnappt Freyer dazwischen und tritt vor, sodass wir uns die Hand schütteln können. Er ist ein mittelgroßer Mann mit grauem Haar und hellen, scharfen Augen hinter einer Brille. Ich sehe nochmal rüber zu dem ausgehobenen Grab.

»Hab die Basisinformationen. Das Grab ist leer?«

»Jep. Nichts zu finden, nur das hier war dabei.« Valerie nickt mit dem Kinn auf einen Grabstein aus Granit, der an den Rand auf eine weiße Unterlage gelegt wurde. Ich ziehe die Augenbraue hoch, betrachte die Gravierung, bevor ich wieder zu ihr schaue.

»Und keine Leiche in der Nähe?«, wiederhole ich nochmal perplex, doch sie schüttelt den Kopf. Freyer neben ihr schaltet sich wieder ein.

»Ein paar Kollegen sind mit Hunden unterwegs, aber bisher hat die Suche nichts ergeben.« Er kneift die Augen zusammen und mustert mich nochmal. »Es ist Nicholas Blackburn.«

»Ich weiß.« Ich sehe nochmal zurück auf das Granit, wo sein Name eingraviert ist, kein Geburts- und kein Sterbedatum. In meiner Brust zieht es sich zusammen. Olivers und mein letzter Fall, der verschwundene Transgender-Teenager. »Nehmen wir ihn wieder auf?«

»Sie beide.« Freyer zeigt erst auf Valerie, dann auf mich. »Kümmern sich darum. Keine Zeit für Lappalien. Finden wir ihn diesmal nicht, ist es aus.«

»Verstanden«, sage ich. Valerie nickt ebenfalls, dann lässt unser Chef uns mit dem Stein am Rande der Szene allein.Wir verharren kurz so, dann seufzt Val leise neben mir.

»Die Berichte sind noch im Archiv, oder? Ich werd's mir mal ansehen. So viele Informationen hat er ja nicht rüberwachsen lassen.«

Ich starre noch eine Sekunde länger auf den Stein, gucke dann aber wieder zu ihr, wo sich unsere Blicke kreuzen. Ihre dunklen Augen fahren über mein Gesicht. Ich ziehe die Mundwinkel hoch.

»Klar. Selbst einsortiert.«

»Wie konnte ich das nur vergessen?«, dramatisiert sie und ich gluckse ebenfalls leise, wende mich dann aber ab.

»Dein Spezialgebiet. Das Archiv.«

»Es ist … Toll da unten. So warm, so dunkel. Verstaubt. Das Berufsrisiko wurde nirgendwo erwähnt«, scherze ich und sie lacht leise, als wir zur Seite treten und die Szene nochmal aus der Entfernung betrachten.

»Irgendwas, das ich diesbezüglich wissen sollte?«, fragt sie, als wir stehen bleiben. Ich überlege kurz, schiebe die Hände in die Hosentaschen. In meinem Kopf flackern Erinnerungen an lange Nächte mit Oliver hoch, in denen er halbanwesend dagesessen und sich den Kopf zerbrochen hat, wohin ein Kind wohl laufen wird, wenn es keinen Fluchtort hat. Warum ein Teenager weglaufen sollte, ohne auch nur eine einzige Wertsache mitzunehmen.

»Nicholas ist nicht weggelaufen«, sage ich schließlich und sehe sie an. Ihr blondes Haar wellt sich von der Kälte und Feuchtigkeit. »Auch wenn's für Freyer die bequemere Variante ist.«

»Du weißt doch, wie er ist. Er liebt bequeme Fälle.«

Ich schnaube. »Du meinst die Lancasters?«

»Keine Beweise, kein Ärger«, wiederholt sie seine Worte und ich schüttle gereizt den Kopf, sage dann aber nichts mehr dazu. Ohne irgendwelche Spuren sind wir machtlos, jeder Verdacht wird unerheblich. Das kann uns hier nicht auch wieder passieren.

»Dann wird’s Zeit, dass jemand Ärger kriegt.« Ich nicke mit dem Kinn in ihre Richtung. »Du wälzt morgen die Akten, ich telefonier mit seinen Eltern. Wir fangen nochmal von vorn an.«

»Ja, Boss«, ironisiert sie scherzhaft und boxt gegen meine Schulter, bevor sie wieder dichter herangeht. Ich schüttle lachend den Kopf, fassungslos. Ich krieg nochmal 'ne Chance. Wenn ich das mit Oliver schon damals verkackt hab, kann ich es jetzt wieder gut machen. Unseren letzten Fall beenden. Das bin ich ihm schuldig.

Der Wald wird weiter abgesucht, aber auch nach zwei weiteren Stunden finden sie keine Leiche, sodass Valerie und ich zurück ins Büro fahren. Ich telefoniere mit dem Labor wegen der bisherigen Spuren, mach einen Termin fix und geh mit ihr nochmal alles durch, was Oliver und ich bisher an wenigen Beweisen zusammen gehabt haben. Wir sind dem Fall beim letzten Mal schon ausgeliefert gewesen.

Gerade, als ich mich nach Feierabend unten ausgestempelt habe, vibriert mein Handy in meiner Hosentasche. Perplex ziehe ich es heraus. Als ich die Nummer sehe, schüttle ich abgefuckt den Kopf. Womit hab ich mir einen Anruf meines Vaters verdient?

»Hallo Dad«, begrüße ich ihn tonlos und drücke die Tür nach draußen auf. Dünner Schnee rieselt vom Himmel und schmilzt auf den Straßen. Gelbe Taxis, die auf dem Stück freier Straße rasen, spritzen mit Schlamm um sich, bunte Regenschirme bewegen sich über die Bürgersteige.
Das polternde Lachen meines Vaters erklingt auf der anderen Seite.

»Christian, alter Junge! So förmlich, wenn ich dich anrufe!«

Ich atme angestrengt aus und schiebe mich zwischen ein paar Leuten durch.

»Was willst du?«

»Darf ich dich jetzt nicht mal mehr anrufen? Dein Geburtstag ist in greifbarer Nähe, sollten wir da nicht aktiv anfangen, wieder eine Familie zu werden?«, fragt er. Ich schnaube, presse den Kommentar, dass es ihn sonst auch einen Scheißdreck kümmert, zurück. Wen interessiert's eigentlich? Er ist nur mein scheiß Vater mit seinen scheiß Gründen.

»Wusst' nicht, dass du's auf dem Schirm hast«, entgegne ich also und erreiche das Parkhaus. Die Haut an meiner Hand ist inzwischen klamm vor Kälte. »Aber das erklärt nicht, warum du anrufst.«

»Ach, Christian, wann kommen wir endlich darüber hinweg?« Er seufzt langgezogen. »Wir hatten in den letzten Jahren zu viele Probleme um deinen Geburtstag herum und es wird Zeit, dass du ihn mit deiner Familie verbringst und nicht mit drittklassiger Gesellschaft. Ich lad dich ein, bring Tory und James mit und das wird ein hammer Abend!«

In meinem Magen verkrampft es sich. Ich lache tonlos auf. Das muss ein scheiß Witz von ihm sein.

»Kein Ahnung, ob ich Zeit hab.«

»Jetzt mach dir nicht ins Hemd, Christian. Ich hab Tory schon eingeladen.«

»Perfekt«, entgegne ich hart, in meinem Inneren ballt es sich zusammen. War klar, dass er die Geschichte so herum einfädelt. Tory wird nicht nein sagen, also kann ich's auch nicht. »Und bei dir gibt’s keine drittklassige Gesellschaft oder was? Was soll die Scheiße?«

»Du benimmst dich wie ein Kind. Hör dir zu«, spottet er, doch ich schüttle nur den Kopf, will auflegen und das Handy auf's Autodach dreschen. »Ich tu dir einen Gefallen und du tust so, als ob es ein Verbrechen wär.«

»Du machst Termine hinter meinem Rücken mit meiner Freundin aus, bevor du mir davon erzählst.«

»So macht man das halt! Wir sind eine Familie!«

»Wir sind keine Familie«, presse ich hervor, steck den Schlüssel in das Autoschloss, mach die Augen kurz zu. Nur zum durchzuatmen. Das sind schon Fakten. Er hat's mit Tory besprochen. Ich hab schon verloren. »Wann sollen wir da sein?«

»Haaaarr! So gefällt mir das«, sagt Dad auf der anderen Seite. Ich schnaube und lasse mich auf den Fahrersitz sinken. »Dein Geburtstag, Uhrzeit hab ich deiner Zukünftigen gesagt.«

»Freundin«, verbessere ich und lehne mich gegen die Kopfstütze. »Noch was?«

»James ist wieder in der Stadt!«, donnert er stattdessen laut in mein Ohr, doch ich rühre mich nicht, zucke nicht mal bei der Nennung seines Namens, dabei fühl ich immer noch was dabei, wenn jemand über ihn redet. Das hat sich in den letzten zehn Monaten nicht geändert.

»Ja. Hab's mitbekommen.«

»Na das trifft sich doch perfekt! Bring ihn mit, dann wird wenigstens auch richtig was los sein, ein paar spannende Storys, ein bisschen Entertainment. Der Junge kann das ganz gut.«

»Ich red mit ihm«, sage ich, auch wenn ich keine Ahnung hab, wie ich ihn dazu bringen soll, noch ein weiteres Treffen mit mir hinter sich zu bringen. Ich muss mir nichts vormachen: Wir sind heute verabredet und das übertritt schon seine Grenzen.

»Na dann ist doch alles super. So viel aus sich gemacht, der Junge. Haarr, Phoenix hat ihm gut getan.«
»Ich red mit ihm«, wiederhole ich nochmal, damit wir das Gespräch endlich beenden können. »Er gibt dir dann Bescheid.«

»So stell ich mir das vor. Perfekt! Dann sehen wir uns dann. Bleib sauber, Christian. Ich freu mich auf deine Tory!«
»Bis dann«, verabschiede ich mich, bevor ich das Handy auf's Armaturenbrett schmeiße. Scheiße.

Es gibt zwanzig Milliarden Dinge, die ich zu tun habe und Dad kommt mir mit einem Essen bei ihm. Ich soll James fragen. Es kann einfach nicht mehr besser kommen.

Ein bitterer Geschmack breitet sich in meinem Mund, als ich den Motor starte. Klar. Ich frag ihn einfach. Wenn er nein sagt, ist es nicht mein Problem. Wenn er nichts sagt, ist's das auch nicht. Wir sind durch, aber ich hab ihn gefragt. Nicht mein Ding.

Aber es fühlt sich immer noch danach an, als ich losfahre und mich an roten Ampeln durch die Mixtapes wühle, von denen wir neunzig Prozent zusammen gemacht habe. Überall ist zu viel Bon Jovi drauf und ich kann mir nicht mehr erklären, wie ich das habe zulassen können. So ist alles wieder da, lebendig, real, als Living on a Prayer spielt. Ich erinnere mich noch an zu viel, seinen warmen Atem und seine kalte Nase direkt an meiner im vorletzten Dezember.
Ich stell das Lied schließlich ab, entgegen des Pressens hinter meinen Rippen, das noch eine Sekunde mehr will, von dem vertrauten Gefühl, noch einen Moment davon, wie es gewesen ist und nie mehr sein wird. Es ist lächerlich. Wir sind nichts mehr, James und ich. Seit zehn Monaten nicht mehr. Seine Rückkehr verändert daran nichts.

Die Vorstellung hält mich vor meiner Wohnungstür fest, kettet mich an das feuchte Metall der Klinke. Ich würge an meinem Atem. Weil's trotzdem noch höllisch wehtut. Es ist mal anders gewesen.

Es ist mal ganz anders gewesen mit uns beiden.

Der Sauerstoff dringt bröcklig zwischen meinen Lippen hervor und ich will nicht weg, mich nicht rühren, raff mich dann aber vorwärts. Mein Versprechen. Ich hab's mir versprochen. Ich akzeptiere es. Ich hab's kapiert. Ich mach keine Scheiße mehr. Ich mach es gut mit uns beiden, dieses Mal, richtig. Wir sind nichts und wenn es genau das ist, was er will, oder zumindest, was er sagt, was er will, akzeptiere ich das auch.

Trotzdem wiegt mein Körper gefühlte Tonnen, als ich die Wohnungstür aufschließe und reinschlüpfe, meine Schuhe zur Seite kicke und ins Wohnzimmer laufe. Über die Sofalehne hinweg, kann ich Torys dunklen Haarschopf sehen. Ich lasse die Schultern fallen, die Wärme kommt zurück. Ich gluckse lautlos, auch wenn es immer noch in meinem Hals klumpt.
»Hey«, sage ich leise und lege ihr von hinten die Hände auf die Schultern, die ich ihre Arme herunterschiebe. Sie zuckt kurz, dreht dann aber den Kopf zu mir, sodass wir uns ansehen können, unsere Nasenspitzen berühren sich fast. »Treffen mit Ben fällt aus?«

»Nein, aber ich provoziere zu spät zu kommen, in dem ich auf dich warte«, scherzt sie und legt das Buch zur Seite, um nach meinen Händen zu greifen. Ich schneide eine Grimasse.

»Du hast gewartet. Nur für mich?«

»Bild dir nur nichts drauf ein«, sagt sie und kichert noch mehr, als ich sie gegen die Nasenspitze küsse, zu ihrer Wange. »Irgendjemand muss die Wohnung hüten.«

»Weil jede Sekunde ein Einbrecher kommen könnte. Hundertprozentig stürzt er sich zuerst auf die Rose's Heart Akten«, ziehe ich sie auf und sie verdreht die Augen.

»Sei nicht albern.«

»Ich bin nicht albern. Rose's Heart? Wow, das will jeder Kriminelle haben. Nicht den Flachbildfernseher, das Laptop, vielleicht den Induktionsherd, ich mein … Nein«, ironisiere ich weiter und drücke glucksend mein Gesicht an ihren Hals. Sie schnaubt amüsiert, aber befühlt meine Finger, als hätte sie Angst, ich würde sie gleich wieder wegziehen.
»Wir haben eine Induktionsherd?«

»Schon immer«, sage ich leise lachend und küsse sie noch kurz gegen die Schläfe, bevor wir uns aus der Verrenkung lösen und ich die Hände wirklich wegnehme, um mich neben sie auf die Couch fallen zu lassen. Ich zieh sie dichter zu mir, wo sie die Beine in meinen Schoß legt und ihren Kopf neben meinen an die Lehne.

»Ich koch zu selten.«

»Du kochst zu selten«, bestätige ich und mustere ihr herzförmiges Gesicht, die verblassten Sommersprossen auf ihren Wangen, die dunklen Ringe unter ihren Augen. »'ne Woche Urlaub und ich zeig dir, wie das Ding funktioniert.«

Sie schüttelt verrenkt den Kopf, fässt langsam über meinen Hals, ihre manikürten Nägel hinterlassen eine warme Spur auf meiner Haut. »Jetzt bist du wirklich albern.«


Ich schnaube. »Freihaben. Wow. Sehr albern.«
»Ich kann mir nicht freinehmen, also tu nicht so, als würdest du das denken«, widerspricht sie unnachgiebig und ich rolle mit den Augen, dreh dann aber wieder den Blick zur Decke. Ich halte ihre kleine, schmale Hand fest.

»Seltsame Wunschvorstellung.«

»Christian-«

»Du kommst zu spät«, schneide ich dazwischen, bevor dir die Diskussion vertiefen und wieder zu keinem Punkt kommen. Dafür haben wir sie schon zu oft geführt. »Ich will das nicht verantworten.«

»Du bist unausstehlich«, presst sie hervor und zieht ihre Hand aus meiner und ihre Beine weg. Ich hebe abwehrend die Hände, sage aber nichts, als sie sich wieder hinstellt und mich ansieht. Die Diskussion haben wir auch schon oft genug gehabt. Wir gucken uns noch eine Sekunde lang an, in der ich die Augenbraue abwartend hochziehe, dass sie sich bei mir ausheult, dass ich sie in ihrem bescheuerten Job nicht genug unterstütze, der sie runterzerrt und aussaugt. Aber sie sagt nichts und wendet sich ab. Ich lass sie gehen.

Während sie lautstark ihr Laptop im Schlafzimmer in ihre Tasche steckt und ihre Ordner dazu stopft, stehe ich wieder auf und hol das vorgekochte Essen raus, das ich in die Mikrowelle stelle, an der Post-Its kleben. Da steht: Harry, Christians Geburtstag. 7 PM. Und Besichtigung Mo 1 PM.

Meine Hand krampft kurz zu Faust, dann reiß den Zettel mit Dads Namen runter, als ich Torys Schritte in der Küche höre.

»Wo ist die Besichtigung Montag?«, frage ich, ohne mich umzuwenden, sondern bleibe auf das Essen in der Mikrowelle konzentriert. Ihre winzigen Hände berühren meinen Rücken, fassen über meine Taille, um die sie ihre Arme schlingt.
»Lower Manhattan.«

»Manhattan.« Ich gluckse freudlos, lehne den Kopf gegen den Oberschrank und fasse zu ihren Fingern um meinen Bauch. Der Geruch ihres Parfüms webt sich in die Luft zwischen uns. »Was ist mit der in Brooklyn? Der Supermarkt ist in der Nähe.«

»Keine Rückmeldung. Außerdem keine Badewanne, die du wolltest.«

»Ich verzicht auf die Badewanne.«

»Du bist blöd«, murmelt sie und lehnt ihren Kopf gegen meine Wirbelsäule, ihr warmer Atem hinterlässt durch den Stoff hindurch heiße Gänsehaut. »Manhattan ist schön.«

»Schön voll. Ätzend laut. Mega weit weg. Wow, ich liebe es«, ironisiere ich und ignoriere, wie sie sich an meinem Bauch festkrallt.

»Lass sie uns wenigstens anschauen. Vielleicht magst du sie. Sie wär nicht mal weit weg von deiner Arbeit, du könntest in den Bus steigen. Vier Stationen und du bist da.«

»Ich hab ein Auto.« Ich balle die Hände kurz zu Fäusten, dreh mich dann aber in ihrem Griff, sodass wir uns ansehen können. »Warum unbedingt Manhattan?«

»Anbindung. Wir sind direkt in Zentrum. Restaurants. Bars. Du hast es nicht so weit zur Arbeit, ich hab es nicht so weit zur Arbeit. Komm schon«, flüstert sie, doch ich schüttle erneut den Kopf.

»Meine Freunde? Sport?«

»Und meine Freunde? Was ist mit denen? Die leben alle in Manhattan. Das sind eineinhalb Autostunden.«
»Ich kann Montag nicht. Guck du sie dir an«, sage ich tonlos und sie presst die Lippen aufeinander, sagt dann aber nichts mehr dazu, weil das Piepen der Mikrowelle ertönt. Als ich mir was auf den Teller schippe, fängt sie trotzdem wieder an.

»Nate arbeitet in Manhattan.«

»Er lebt aber nicht in Manhattan«, widerspreche ich tonlos. »Guck dir die Wohnung einfach an und sag mir, wie sie war.«

»Natürlich«, würgt sie hervor und hält meinen Arm fest, sodass ich innehalten muss und zu ihr schaue. Ich presse die Lippen aufeinander. »Ziehen wir nicht beide um?«

Ich gluckse bitter.

»Sag mir das, wenn du von der Arbeit wieder da bist.«

»Du nervst«, sagt Tory, was ich auch so weiß. Ich zieh trotzdem in keine beschissene Wohnung in Manhattan, wo sich ein Stau an den nächsten reiht und man nicht mal in einen Supermarkt gehen kann, ohne zwei Stunden unterwegs zu sein.

»Touché«, entgegne ich tonlos und ziehe die Augenbraue hoch. Ihre Lippen sind eine dünne, weiße Linie und wir warten beide darauf, dass der andere noch was dazu sagt, aber von ihr kommt nichts mehr und für mich ist das Thema auch durch. Also wendet sie sich wieder ab und ich kann zum Tisch. Tory lehnt auf der Kante und wartet auf mich, meinen Autoschlüssel in der Hand, den sie hochhält. Meine entgleisten Gesichtszüge bewege ich schnell zu einer Grimasse.

»Fahr vorsichtig. Straßen sind rutschig.«

»Danke.« Sie lächelt bemüht und fässt nach meinen Fingern, als ich den Teller hingestellt habe, sodass ich sie zu mir ziehen kann, die beschissene Diskussion immer noch zwischen uns wie ein Keil. »Grüß James von mir.«

»James.« Ich lache hohl auf. Sein Name bohrt mir ein Loch durch die Brust und ich kann nicht dran denken, wie es sein wird, wenn wir uns treffen. »Ich weiß nicht mal, ob er sich an dich erinnert.«

»Dann wird’s Zeit, dass ich ihn kennenlerne. Er ist dein bester Freund«, sagt sie leise und ich verkrampfe mich unter ihrer Hand, die sie auf meine Brust legt. Ich kann ihr nicht sagen, dass wir keine Freunde mehr sind. Ich könnte ihr nicht sagen, was wir sonst sind.

»Triffst ihn auf der Hochzeit.«

»Bis zur Hochzeit sind es noch acht Wochen. Komm schon, er ist dir immer noch wichtig. Ich weiß es, also tu nicht so ungetroffen«, zieht sie mich auf. Ich gluckse, dabei hat sie keine Ahnung und wird sie nie haben. Irgendwas Scharfes bohrt sich in meine Lungen, als ich ihre Hand langsam wegschiebe.

»Ich bin nicht ungetroffen. Hab's nie behauptet.«

»Aber du tust so. Habt ihr euch wieder vertragen?«

»Wir haben uns nie gestritten.« Wir haben uns getrennt. Er ist abgehauen, hat sich nach Phoenix verpisst, weil ich ein Wichser war. Aber sie kann's nicht wissen, wie das gewesen ist, vor den Trümmern zu stehen, die man selbst geschaffen hat. »Und wir kommen zurecht.«

»Willst du jetzt drüber reden?«, fragt sie leise und dreht meinen Kopf wieder zu sicher, doch ich entziehe ihr mein Gesicht und schieb sie ein Stück von mir weg. In meinem Kopf hämmern kalte Erinnerungen an die Morgen danach, das frostige Gefühl der Matratze unter meinen brennenden, unkontrollierten Händen. Es ist okay. Akzeptieren. Ich akzeptiere es, ich hab's kapiert, aber man. Es tut weh. Es tut immer noch weh, selbst jetzt, mit Tory, meinem geebnetem Leben um mich, noch mehr mit der Idee seines Gesichtes vor meinem.

»Es gibt nichts zu sagen. Schon gut«, sage ich ebenso leise, mein Hals ist zu, aber ich küsse sie tröstend auf die Wange, damit sie gottverdammt aufhört zu fragen.

Sie tut mir den Gefallen. Als sie weg ist, esse ich, räum alles auf und zappe mich durch Netflix, versuche mich an nichts zu erinnern, aktives Vergessen, immer wieder, immer wieder auf's Neue, bis ich endlich damit durch bin, klar bin, zurecht komme, wenn James da ist. Keine Scheiße macht, nicht wieder damit anfange, was gewesen wäre, wäre er geblieben. Wir hätten das nicht regeln können. Ich hab's verkackt.

Meine Hände zittern und glühen höllisch, als es noch ein paar Minuten sind und ich im Bad stehe und mir kaltes Wasser ins Gesicht klatsche. Durchatme, mir Erinnerungen mit Nate ins Hirn pumpe, damit wir vorbereitet für die Rede sind und das hinkriegen, wir schnell durchkommen und ich ihn hier nicht festkette. Man. Ich hoffe, er ist glücklich. Ich hoffe, ihm geht’s gut.

Mein Kopf brennt trotzdem noch, als ich mein Gesicht in einem Handtuch trockne und es an der Tür klingelt. Mein Herz macht einen Satz, doch ich lege es langsam zur Seite, bevor ich aus dem Bad schlüpfe und zur Tür gehe. Angestrengt ausatme und dann auf den Knopf drücke.

»Ja?«

Es ist gefühlte Ewigkeiten still auf der anderen Seite, dabei sind es nur ein paar Sekunden, die James braucht.

»Ja. Hey. Ich bin's. James.«

»Ich lass dich hoch«, sag ich überflüssigerweise und drücke dann auf den Öffner. Als ich die Eingangstür aufmache, höre ich seine langsamen Schritte auf den Stufen, das Laufen, das Zögern, das Warten, das Weiterlaufen.
Als er den Absatz erreicht, fällt James das Licht direkt ins Gesicht. Obwohl irgendwas auf meine linke Brustseite einprügelt und mich dort zerschmettert, ziehe ich die Mundwinkel hoch, als blau blau kreuzt. James schneidet eine Grimasse.

»Zufrieden?«, spottet er und bleibt auf die Entfernung stehen. Ich zucke mit den Schultern, auf denen Gewichte zu liegen scheinen.

»Die Rede. Also zufrieden.«

»Klar.« Es hört sich nicht danach an, aber seine Stimme hat das Angriffslustige verloren. Er klingt mit einem Mal genauso müde, wie ich mich fühle, sobald er hereinkommt. Als die Tür geschlossen ist, drehe ich mich zu ihm um, sein längeres, dunkles Haar bildet einen Vorhang vor seinen Augen, als er die Schnüre seiner Bikerstiefel öffnet. Ich hab schmerzhaftes, hartes Herzrasen und muss woanders sehen. Räuspere mich.

»Schon Ideen gesammelt?«

»Ne. Kenn Nates peinlichsten Stories aus'm Kopf. Wenn wir die durch habe, heult das Publikum, aber es ist 'ne Woche vergangen.«

»Nicht ganz der Sinn der Sache.«

»Fuck, ich wusste, daran stimmt was nicht.«

»Vielleicht hast du 'ne peinliche Story, die auf eine Hochzeit passt, dann geht's«, sage ich, doch er schnaubt nur. Ich hab auch keine richtige Antwort erwartet. Wir wollen's einfach nur hinter uns bringen.

Ich geh schon rein und räume Torys Bücher vom Tisch, die ich ins Regal stelle, als James zögerlich reinkommt, das Gesicht verzieht.

»Neuer Style.«

»Nur umgeräumt. Schon 'ne Weile so«, sage ich. Wir beide starren auf die Wand, wo der Schrank steht, hinter dem die Zeichnung vom Grand Canyon dran ist. Die Nächte, in denen wir daran gemalt haben, sind plötzlich wieder real, hämmern mir neue Löcher in die Brust. Ich schieb die Hände in die Hosentaschen, um das Krampfen meiner Hände zu verbergen, und geh zu meinem Fernsehschrank, wo unten das Laptop in der Schublade ist. »Deine Möbel alle schon da?«

»Ja.«

»Das ging fix.«

»Hab eine Menge Sachen in Phoenix neu gekauft.«

»Hab's gesehen. Nettes Auto«, sage ich und nehme das Laptop mit klammen Händen raus. James geht zum Esstisch, ohne mich anzusehen. Mein Puls ist laut in meinen Ohren, Schweiß steht mir im Nacken. Ich mach's auch einfach so. Nicht hinsehen ist besser. »Sportwagen. Passt.«

»Danke«, entgegnet er und ich mach das Laptop an, dreh's zu ihm. »Toyota GT86. Fuck, Mann, es hat sich gelohnt.«

»Absolut«, stimme ich zu und mach dann doch den Fehler zu ihm zu schauen, wo unsere Blicke sich wieder kreuzen und wir beide schnell wieder woanders hinschauen. Es sticht in meiner Kehle. »Willst du was trinken?« Ich brauch Beschäftigung für meine Hände. Man. Nur 'ne Sekunde raus, atmen, atmen.

»Ne, geht klar.«

»Okay?«

»Mann, mach einfach. Bring was mit. Nix Starkes, muss noch zurück«, murmelt er und ich lache auf, auch wenn es immer noch wehtut, sticht. Wir sind scheiße, aber hey, er ist hier. Er ist echt hier.

Also geh ich in die Küche und kipp Wasser in Gläser, die ich drin hinstelle. Er hat mein Passwort schon eingegeben, aber es gibt keinen Grund, das zu kommentieren.

»Hab mir angesehen, was in so eine Rede reinsoll«, setze ich an, damit wir irgendwie ins Gespräch kommen, egal wie scheiße die Situation mit uns beiden ist. »Wir brauchen 'nen roten Faden, er sich durchzieht und an dem wir uns aufhängen können.«

»Geil.« James stürzt drei große Schlucke seines Wassers runter. »Was ist mit Nates Leidenschaft für Frauenunterwäsche. Haben beide 'ne Schwäche für.«

»Könnte nicht so gut ankommen.«

»What.« Er würgt, starrt immer noch auf den Bildschirm. »Wetten, der trägt auch BHs und macht eine Modenshow für Irina?«

»Sie machen eben alles zusammen?«, schlage ich vor und dieses Mal kräuselt es sich sogar etwas um seine Lippen.
»Zeigt ihr, wie super's aussieht. An anderen Frauen geht’s nicht, weil sie sonst eifersüchtig wird.«

»Scheiße.« Kopfschüttelnd lehne ich mich zurück und seh ihn einfach an. »Ich brauch 'nen Buzzer. Das kann in keine Hochzeitsrede rein.«

»Gibt kein Buzzer. Musst dich so mit meiner Scheiße herumschlagen.«

»Krieg's hin.«

»Super.«

Wir schweigen wieder kurz. Ich räuspere mich und rede wieder, bevor das ausufern kann.

»Vielleicht ist die ganze Kennlerngeschichte aber nicht schlecht. Wir haben Nates Perspektive, Cat und Landon wollen bei Irinas Gründen bleiben. Damit hätten wir dein Unterwäschefaible aufgegriffen.«

»Das ist Nates Faible, nicht meins.«

»Sollten wir explizit so erwähnen.«

»Klar.« Er gluckst leise und tippt irgndwas ins Dokument, das er geöffnet hat. »Also die Victoria's Secret Begegnung steht. Was stand da noch so?«

»Persönliche Erinnerungen«, werfe ich ein und starre noch kurz auf seine Hände auf der Tastatur, als mir etwas einfällt. Meine Mundwinkel zucken. »Eure erste Begegnung.«

»Nase war seitdem nie mehr die Gleiche.« Auch James kann schwer ein Grinsen unterdrücken. »Deine Schuld.«

»Hab ich mich mit ihm angelegt oder du? Ich glaube, deswegen war auch deine Nase gebrochen und nicht meine.«

Unschuldig verschränke ich die Arme im Genick. James wirft mir einen abgefuckten Seitenblick zu und das erste Mal ist es nicht mal komisch, als wir uns ansehen. Vertraut, in Ordnung.

»Du hast gewettet.«

»Du hast angenommen.«

»Das war 'ne Herausforderung. Hätte ihn fertig gemacht, hätte ich's gewollt, aber das hab ich nicht über's Herz gebracht. Ich schwör's.«

»Hört, hört, der Schwörer is back in the City«, tröte ich und dann lachen wir beide unterdrückt los. Es ist albern blöd, vermutlich schon vollkommen zerredet das Thema, aber wieder brandaktuell mit einem Mal.

»Mann.« James schüttelt den Kopf über mich, deutet demonstrativ an sich runter. »Dank mir ist er nicht noch auf dich los. Du hast mir was zu verdanken. Hab noch nie 'nen Danke dafür gehört.«

»Nate? Gegen mich? Komm schon, das glaubst du doch selbst nicht. Nate könnte mich nicht schlagen.«

»Hast Recht. Das Babyface, dass muss es sein«, spottet er und ich rolle die Augen, spüre aber, wie sich der Knoten in meinem Inneren löst. Kopfschüttelnd drehe ich das Laptop ein Stück zu mir.

»Dafür reicht's in der Rede nicht.«

»Mann, klar reicht's dafür. Persönliche Erinnerungen. Nates? Das Babyface, das er nicht zu Matsch schlagen konnte, ist heute sein zweitbester Freund. Das muss rein. Mann. Wir könnten dich zum Running Gag machen«, überlegt er laut und zieht das Laptop wieder zu sich, bevor ich es festhalten kann, wo tatsächlich Babyface notiert. Ich lass ihn einfach und schmeiß das nachher raus, wenn er weg ist.

»Zweitbester Freund. Träum weiter, Baskin«, sage ich glucksend und ziehe die Augenbrauen hoch, als er mir über den Rand des Laptops einen Blick zuwirft, dann aber schnell wieder runterschaut.

»Direkt hinter mir. Ich tret ihm in Arsch. Du puderst ihn.«

»Mit Sicherheit nicht.«

»Ich will's nicht so genau wissen, was Nate und du so machen, wenn ihr allein seid. Es ist mir echt egal, du brauchst nix sagen«, spottet er weiter. Ich lache schon wieder, immer noch, keine Ahnung.

»Meistens lästern wir darüber, was für Scheiße du redest«, scherze ich. Er schnalzt dramatisch mit der Zunge.
»Hätt mir klar sein müssen. Bin zehn Monate weg und's Leben ohne mich ist scheiße.«

Ich antworte zu schnell.

»Es war scheiße ohne dich«, sage ich und dann liegen die Worte plötzlich zwischen uns, aufgeschlitzt, offen, pochend auf dem Tisch und schreien mit langem Echo, dass es noch lange in den Ohren wehtut. Ich kann den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden, das sich eine Sekunde verzerrt, dann aber wieder glatt wird. Will noch was sagen. Irgendwas Dummes.

»Ok«, bringt er schließlich raus. Ich presse die Augenlider aufeinander. »'s nehm ich nicht mit rein.«

»James-«

»Was ist mit Kansas? Es war cool von ihm. Er ist einfach hingekommen«, redet er mit gepresster Stimme weiter, aber ich ersticke beinahe in den Trümmern, die jetzt wieder so deutlich vor uns, auf mir, überall um uns liegen. Ich hab's ihm noch nicht gesagt. Dass es mir leidtut. Dass ich kapiert hab, dass ich's nicht wieder gut machen kann, was passiert ist.

»Weil die scheiß Batterie plötzlich leer war.«

»Kyles Geburtstag war's?« Er atmet rasselnd aus. »Oder?«

»Ja. Haben fünf Stunden rum gesessen am Straßenrand.«

»Noch 'ne Sekunde länger und es hätt' uns wer nach unserem Stundenlohn gefragt, hundert pro«, spottet er, aber es kommt nicht mehr durch. Mein Inneres krampft zusammen, auseinander, zusammen, auseinander, immer wieder.
Atmen tut weh. Wie leicht es gewesen ist. Und hier ist das, was davon übrig geblieben ist.

»Es tut mir leid«, sage ich. Jetzt zuckt er das erste Mal, so heftig, dass sein leeres Glas umfällt. Ich fahre zusammen, aber er stellt es kommentarlos wieder hin. »Was passiert ist, war-«

»Kein Wort mehr«, schneidet James dazwischen. Ich fühl mich, als hätte er mich ins Gesicht geschlagen. »'s ist nix. Vergiss es.«

»Es … Es ist nichts?«, bringe ich irgendwie hervor, es flammt mir heiß den Hals hoch. »Nichts? Wir-«

»Kein. Wort. Ernsthaft«, redet er tonlos dazwischen. Ich starre ihn an. Seine Worte brennen immer noch wie Hiebe in meinem Gesicht. Ich hab's doch gewusst, oder? Dass er nichts darüber wissen will. Keine scheiß Entschuldigung.
Trotzdem könnt' ich grad mein Gesicht irgendwo gegen drücken und dazwischen verschwinden, weil's wehtut. Immer wieder. Immer noch.

»Klar. Perfekt. Wow, was hab ich gedacht?« Mir liegt's schon auf der Zunge. Ihm zu sagen, dass ich's nicht bereue. Nur, wie's passiert ist. Nicht ihn. Niemals ihn.

»Offensichtlich hast du nix gedacht. Man.« Er ächzt leise und steht plötzlich vor seinem Stuhl. Ich auch, aber bewege mich nicht, als er sich mit beiden Händen an der Tischplatte abstützt, ohne mich anzusehen. »Sekunde. Muss kotzen«, sagt er leise und dann ist er weg. Die Badezimmertür knallt und ich bin wieder allein, das Brennen immer noch in meinen leeren Händen. Ich hab schon Visionen davon, wie ich das Laptop runter reiße und mit der Faust auf den Tisch schlage, bis die Haut über den Knöcheln aufplatzt und das Holz nachgibt. Aber nichts passiert. Ich falle nur in mir zusammen, in den Stuhl und bedecke meine Augen, versuche, wieder ich selbst werden. Schon wieder. Ich mach die Scheiße echt immer wieder.

James ist fast eine Viertelstunde weg in der ich Kaffee koche und den Tropfen beim Fallen in die Kanne zuschaue. Als er wieder da ist, sind seine Hände rot und der Wasserhahn später immer noch auf kalt gedreht. Wir kriegen nichts mehr zustande. Das Treffen bleibt kurz und erfolglos. Als er seine Schuhe wieder anzieht, sage ich wieder etwas, das ich nicht habe sagen wollen.

»Dad gibt ein Essen für mich.« Wir schnauben im gleichen Moment, aus dem gleichen Grund. Wie lächerlich, wenn er sich sonst auch nicht für mich interessiert. »Er will dich dabei haben.«

James schaut mich nicht an, als er seine Jacke nimmt. Ich seh alles, was er macht, die Bewegung seiner Hände, seiner Finger, das Flattern seiner Wimpern. Ich gucke zur Tür neben ihm, als er den Kopf dreht. »Sag ihm Bescheid, ob du hinkommst.«

»Ok.«

»Die Woche drauf feier ich mit den anderen. Du ...« Ich verzieh das Gesicht, weil ich weiß, wie lächerlich das in unserer derzeitigen Situation ist. »Könntest kommen. Danny hat 'ne trashige Idee.«

»Klar. Hab's im Hinterkopf«, sagt er tonlos. Es gibt nichts mehr zu sagen. Ich kann ihn nicht mehr am Ellenbogen zurückhalten und bitten, noch ein wenig zu bleiben, mir eine Antwort auf eines der beiden Sachen zu geben. Ihn fragen, wann ich ihn wiedersehe. Es wird schon noch passieren.

»Schreib mir wann du wieder Zeit hast. Wegen der Rede«, sage ich deswegen und er ächzt leise, fährt sich über's Gesicht und nickt. Ich hab die Tür erst eine Sekunde offen, da flüchtet er beinahe aus der Wohnung.


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BeitragVerfasst: Mo 14. Aug 2017, 14:25 
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[JAMES] Kapitel 3


Alles, was ich gerade brauche, ist zehn Stunden Schlaf, zwanzig Grad draußen und Sonne – grüne Grasflächen vor der Haustür, das Dröhnen von Hupen vor dem Haus, meinen Wagen, in dem ich die Fenster runterlasse und die Luft, wenn es zieht und sie kühl wirkt.
Als ich aus dem Coffeeshop rausgehe, rauschen mir Schneeflocken ins Gesicht. Das Grün fehlt und die Sonne, nur der Straßenlärm ist da. Der Himmel ist schwarz bezogen und keine Sterne sind zu sehen. Die Temperaturen liegen unter der Nullgrenze.
Die Kälte frisst sich durch meine Jacke. Ich wärme meine Hände am Kaffee. Der Pappbecher ist leer, bevor ich das Gebäude erreicht habe. Ich schmeiß ihn in einen Schneeberg und gehe zum Skyscraper, in dem wir nach Betriebsschluss nochmal die Alarmanlage gemacht haben und am Lift haben drehen müssen.
Als ich reinkomme, steht mein Chef mit meinen Kollegen vor der geöffneten Fahrstuhltür. Yves guckt den Schacht runter. Stephan bemerkt mich und dreht sich zu mir um.
»James, da bist du ja wieder. Mit dir wollte ich nochmal sprechen, bevor ich euch in den Feierabend entlasse.«
»Ist alles in Ordnung?«, erkundige ich mich sofort und schmeiße meinen Schal auf meine herumliegende Tasche. »Hab ich was übersehen?«
»Nein, wir haben nichts übersehen«, wirft Ryder spitz ein. Ich ignoriere ihn. Stattdessen gebe ich meinen Chef die Hand, als er mir entgegenkommt. Ein breites Grinsen steht auf seinem roten Gesicht. Das Blau seiner Augen ist scharf.
»Ich hab dein Zeugnis aus Phoenix gekriegt.«
In meinem Inneren verkrampft sich etwas. »Und?«
»Was und? Es war super. Die vermissen dich da drüben schon.«
»Er kann's halt, ist doch klar oder?« Yves schiebt die Fahrstuhltüren wieder zu, bevor er sich umdreht und auf mich zeigt. »Er hat uns hier quasi gesagt, wie alles geht.«
»Jetzt übertreibst du aber«, wirft Ryder wieder ein. Stephan geht auf nichts des Gesagten der beiden ein, sondern legt mir einen Arm um die Schultern, ehe er mich ein Stück wegführt.
»Läuft alles gut bei dir? Schon wieder eingelebt?«
»Mir geht’s gut«, antworte ich. Er nickt und klopft mir auf den Rücken. Dann sieht er vorwärts.
»Das ist manchmal nicht leicht. Immerhin, zehn Monate und schon wieder zurück.«
»Nichts geht über Brooklyn«, sage ich. Er wiegt den Kopf. Dann lässt er los. Dann deutet er auf Yves und Ryder.
»Ihr musstet warten, also gebe ich euch einen Drink aus, was denkt ihr?«
»Das kannst du mit einem Drink nicht begleichen!«, antwortet Ryder, während Yves eifrig seine Tasche vom Boden reißt. Ich hole meine auch noch.
Wir fahren runter nach Brooklyn. Weil Freitag ist, klingt er Drink nach allem, was ich brauche. Bei allem, was ich noch vor mir hab, brauch ich mehr als einen.
Ich hab ein drückendes, aber anheimelndes Gefühl im Hals, als ich parke. Eher vertraut als angenehm, wenn es von Innen nach meinem Äußeren schabt.
Ich lehne mich zurück. Ich nehme mir ein paar Atemzüge, dann mein Handy aus der Hosentasche, wo sich nichts getan hat. Ich bin dankbar: Christian und ich sind längst über den Zeitpunkt hinaus, dass ich habe anrufen müssen, damit wir die Rede weiterschreiben. Aber wir haben noch viel Zeit. Anfang Februar. Nate und Irina heiraten erst Mitte Schrägstrich Ende März.
Ich stecke es wieder weg. Die Kälte weicht nicht aus meinem Genick. Ich steige aus.
Ich kenne die Bar nicht, die wir besuchen. Ryder steht schon vor der Tür, während Stephan und Yves noch Parkplätze suchen. Ich guck mich um und betrachte die Neonschilder, als ich hingehe.
»Na, Mr Vitamin B, bist du zufrieden? Alle Aufmerksamkeit auf dich gerichtet?«, fragt er mich, als ich ankomme. Ich zwinkere ihm zu und stecke die Hände in die Taschen.
»Wenn ich 'nen Drink dafür krieg, is' mir die Aufmerksamkeit recht, ja.«
»Ja, hab ich mir so gedacht.« Er schnaubt. Aufgrund des Lichts bildet sich ein pinker Schein auf seiner dunklen Haut. »Nervt das nicht total? Er spielt dauernd Daddy bei dir.«
»Ist doch scheißegal. Er kauft Drinks, ich hab die Weiterbildung, hoffentlich hab ich bald 'nen eigenes Büro. Dann mach ich die Tür zu und gut ist's.« Ich beobachte die Leute, die die Bar verlassen und die sie betreten. »Ich mach mir eher Sorgen, dass wir ihn unter'n Tisch saufen und er ein' von euch rausschmeißt.«
Ryder lacht. »Was? Du glaubst, Yves kann ihn unter den Tisch saufen? Ich glaub, der dreht 'nen Kreis um ein Bier und dann ist er betrunken.«
»Mann, Yves ist auch kein Kaliber. Der's besoffen, wenn er nur das Wort Bier hört. Dann fang ich an von Weibern zu reden und dem seine Hose ist ruiniert. Was für'n Loser«, spotte ich. Ryder lacht immer noch, als Stephan und Yves auftauchen. Wir gehen rein.
Die Kneipe ist brechend voll. Sie hat keinerlei Flair wie die in Brooklyn, die ich mit Nate, Irina Cat (und Christian) besuch(t)e. Das Holz ist poliert und glänzt. Studenten sind überall, dazwischen hübsche Brünette mit langen Beinen. Der Altersdurchschnitt ist viel niedriger.
Wir kriegen einen Tisch. Stephan geht Getränke holen. Ich schmeiße mich auf die Bank neben Yves und konzentriere mich auf das Licht und die Spannung meines Körpers, damit ich nicht zusammensacke und der Erschöpfung nachgebe, die meine Gedanken platt macht und mich einlullt.
»Man, Stephan ist ja richtig spendabel. Was nur los mit dem?«, fragt Yves. Ryder kneift die Augen zusammen, während er sich umsieht.
»Wer weiß. Ich trau ihm keinen Meter über den Weg.«
»Isses schon wieder irgend'ne dramatische Story, die Stephan durchgezogen und dir geschadet hat?« Ich gähne und fahre mir über's Gesicht. Ryder winkt ab.
»Baskin, nun mach nicht auf dicke Hose. Du hast den Job erstens nur, weil du Harry Redford kennst und deinen Unikram auch.«
»Meinetwegen seid ihr hier, also.« Ich kicke gegen sein Bein unterm Tisch und er flucht. Yves lehnt seine Arme nach hinten und betrachtet uns amüsiert.
»Da muss ich ihm aber recht geben.«
»Hat keiner mit dir gesprochen.«
Yves ignoriert Ryder. »Hey James, ich hab gehört, du hast die Flores aus Phoenix rumgekriegt.«
»What the hell?«
»Na die heiße Braut. Mit dem geilen Arsch. Die Ingeneurin.«
Ich versuche durch mein müdes Hirn zu filtern, wovon er spricht. Als es mir einfällt, gluckse ich nur und zucke mit den Schultern.
»Man, sie's nix besonderes. Macht auf harte Schale, aber sie's 'ne verdammt traurige Seele.«
»Das in Gottes Namen hast du angestellt?«
»Ich wette, James hat noch nie jemanden mit heiße Braut tituliert, das hilft«, gibt Ryder zum Besten. Bevor Yves ihm eine Antwort geben kann, taucht Stephan wieder auf und bringt das Bier.
Ryder und Stephan sind relativ schnell weg, aber ich saufe weiter. Es fühlt sich an, als wäre mein Herz aus meinem Inneren verschwunden, als poche darin Leere. In meinem Kopf spielt mein Hirn immer das gleiche Video wie von einer kaputten Kassette. Immer wieder Christian, in seiner Tür stehend und ich im Treppenhaus, bevor ich abgehauen bin.
Ich bestelle mir mehr Wodka. Yves labert ohne Unterbrechung. Er's noch nicht besoffen genug.
»Es is' echt 'ne hammerkranke Story, die Stephan da erzählt hat, wa? Ich mein, wer will auf 'ne Frau, die schon verheiratet is', kapier'ch nich', außerdem tun'se doch immer so auf keusch.«
»Fuck, 's is' scheißegal, wenn sie gut is', is' sie gut, scheiß drauf, mit wem sie zusamm' is'. Gott, es is' 'nen bekackter Ring.« Ich krieg noch einen Shot. Es ist nicht mal 'nen Ring gewesen. Was für'n Hurensohn ich bin. Er wollte es eh nicht. Ich wollte es eh nicht. Was reg ich mich auf? Wen interessiert's? Es ist vorbei. Ich bin dankbar. Man, hab ich ganz vergessen, mir zu das sagen.
»Jaaa, wenn sie's mach'n. Kannst nich' jede haben.«
»Laber mich nich' vooll. Kann'ch.«
Yves reckt das Kinn. Ich hab kein Bock auf seinen Kindergarten. Ich mach die Scheiße trotzdem mit.
»Wett'n wir?«
»Wett'n wir nich' auf dein Auto, du verkackst. Haste schon.« Ich schneide eine Grimasse. Ich bestell mir Bier, was Leichteres. Ich versuch's mit Konzentration. Die kaputte Kassette läuft immer noch.
Ich reiß also die semihübsche, dürre Blondine auf, nach ewigen, ermüdenden Diskussionen er ihren Bruder oder Schwester. Ich krieg's nicht genau mit.
Sie spielt Klammeräffchen, als wir im Taxi sitzen. Sie ist so klein und schmal, dass meine Hände sich selbst im besoffenen Zustand noch wie meine eigenen anfühlen, weil sie plötzlich eine Aufgabe kriegen, etwas festhalten können, jemanden festhalten können. Sie ist richtig gut, als wir zusammen in ihrem Schlafzimmer landen und sie mir einen bläst. Der Sex ist scheiße, weil ich mitten drin einen Blackout habe. Sie schlägt mich. Ich bin wach. Wir werden fertig.
Danach komare ich. Als ich aufwache, graut der Morgen. Mein Hirn dröhnt. Ich kann mich nicht bewegen. Als ich aufstehe, bin ich wacklig, aber gehe langsam. Ich kenn das. Keinen Krach machen. Das Weib schlafen lassen. Dusche kriege ich zu Hause.
Draußen: Immer noch kalt. Ich rieche nach Schweiß und Sperma. Ich will mich aus mir rausschälen. Der Film läuft immer noch. Desto weiter ich gehe, desto klarer werden die Kanten und desto mehr weiß ich. Ich weiß jetzt alles: Wieso er da ist und nicht hier. Wieso ich hier bin und nicht dort. Ich verstehe Christian und mit einem Mal verstehe ich alles: Ich hab verdient, was passiert ist. Ich hab die Scheiße nach allem wirklich verdient, noch immer, weil er jetzt zu Hause bei Tory liegt und ich von einem Auto gegen das nächste taumle und dabei hoffe, dass ich endlich die Metrostation erreiche. Weil er schläft und ich in eine Mülltonne kotze. Weil ich dort hätte bleiben sollen und er hier.
So ist das halt.
Ich schlafe zu Hause sofort auf der Couch ein.

Hier kenne ich alles: Ich kenne das Warten vor dem elektrischen Tor. Das Knirschen von kleinen Steinen auf dem Asphalt, wenn ich mit dem Wagen über den Parkplatz fahre und ihn dort abstelle. Das Haus, wo sich Zement mit Holz mischt, damit alles ländlich wirkt.
Meine Hände zittern unkontrolliert. Es ist nichts besonderes: Harry hat mich eingeladen. Ich gehe wieder. Ich habe heut Abend noch was vor. Morgen Uni, ich muss direkt nach der Arbeit hin. Nette Einladung, aber einen Drink muss ich ausschlagen.
Ich verstecke meine Hände in meinen Taschen. Ich konzentriere mich auf die Haustür, immer wieder zuckend und abgelenkt vom Geräusch meines eigenen Herzens, das hart gegen meine Rippen stößt, als wolle es ein Loch schlagen und damit seinen Weg in die Freiheit bahnen.
Ich schlüpfe die sauber abgefegten Stufen hoch. Ich hab die Hand noch nicht mal zum Klopfen gehoben, als bereits geöffnet wird.
»James, hallo, du bist ja da!«, freut sich Rory, die Haushälterin. Wir umarmen uns. Das Dejá-Vù steigt mir bis in de Kopf und hinterlässt dort kalte Bilder. Wir lassen los.
»Fuck, Mann, du siehst mindenstens zehn Jahre jünger aus. Is' das 'ne neue Frisur? Hammer«, antworte ich. Sie kichert daraufhin übertrieben und klopft mir gegen die Schulter. Ich gehe rein.
»Nun, nun, nicht zuviele Komplimente, junger Mann, dann ist das aber gar nicht mehr glaubwürdig!« Sie nimmt mir meine Jacke ab.
»Nix als die Wahrheit, kann nich' anders, sorry«, antworte ich, aber sie winkt einfach nur ab. Stattdessen macht sie eine Handbewegung Richtung des Türbogens, der in den Wohnbereich führt.
Ich würge meinen Atem herunter, dann schüttle ich den Kopf. Ich geh nochmal ins Bad.
Ich schließe die Tür nochmal hinter mir und gucke in den Spiegel. Ich sehe minutenlang meine Augen an, als könnte ich das Blut dahinter sehen, das in meinem Hirn lauthals rauscht. Mein Puls rast an meinem Hals bis in meine Fingerspitzen.
Ich will die Farbe in meinem Gesicht wieder, weil ich nicht abgefuckt bin. Ich scheiß auf alles. Wir müssen die Rede noch schreiben. Das können wir später. Sonst schreibt er sie. Oder ich schreib sie. Ich hab sein Geschenk vergessen. Ich hätte ohne kommen sollen. Was mache ich hier? Rory wird Harry sagen, wenn ich wieder abgehauen bin.
Ich lasse mir eiskaltes Wasser über die Hände laufen, bis ich die Haut nicht mehr spüre. Dann presse ich sie gegen mein Gesicht. Das Wasser perlt von meinem Hals herunter in mein Shirt. Ich weiß es. Ich kapier's. Das ist sein Geburtstag. Ich gehe schnell wieder.
Meine Mantras sind so abgefuckt, wie ich es bin. Denn ich will immer noch festgewurzelt sein. Ich will immer noch nicht von der Stelle, aber nichts geschieht. Ich gehe wieder raus. Ich gehe durch die Eingangshalle und dann zurück zum Auto. Fast bin ich versucht einzusteigen und wieder wegzufahren. Aber es ist nichts – das bin nur ich. Das ist alles in meinem Kopf.
Ich hole den Ball, den ich in einer meiner Kisten gefunden habe. Alle Unterschriften der Basketballer in unserem Abschlussjahr an der High School haben unterschrieben. Ich kam auf die Idee. Christian hat sie immer umsetzen wollen. Er hat es nie gemacht.
Ich hatte einfach keine bessere Idee.
Mein Shirt fühlt sich angefroren an meinem Körper an, als ich wieder drin bin. Ich gebe mir einen Ruck. Und dann noch einen. Und noch einen. Dann gehe ich endlich durch.
Im Wohnbereich sitzen sie.
»James! Hallo!« Tory lächelt und steht auf. Christian neben ihr steht auch auf.
»Hey Tory«, sage ich zu ihr. Sie quetscht sich als erstes am Couchtisch, ein futuristisches, weißes und mit Glas verziertes Ding, potthässlich, vorbei und geht mir entgegen. Ich gucke ihr uns Gesicht, dabei zucken meine Augenwinkel, weil ich abgelenkt bin. »Du siehst fantastisch aus.«
»Danke.« Sie lächelt verlegen und macht eine dramatische Verbeugung. Dann stehen wir voreinander. Ich hab ihr starkes blumiges Parfüm in der Nase, das ich sonst nur von Christians Shirts gekannt habe, und das viel zu gut. Ich hechte mit den Händen umher und dem Ball in der Hand. Sie ist ebenso verwirrt. Ich lege ihn in einen Arm, dann umarme ich sie verrenkt.
Sie ist so klein und schmal zwischen meinen Händen, weich und zerbrechlich.
»Das ist ja ewig her«, sagt sie dann. Christian kommt mir entgegen. Ich nicke, dabei kann ich mich nicht mehr dran erinnern, wann das nochmal war.
»Ja, hatte praktisch schon vergessen, wie du aussahst.«
»Du hast Zoey angesprochen. Das war das seltene Mal, dass wir mal woanders mit Nate was trinken gegangen sind«, erinnert Christian mich. Ich wende mich an ihn. Wir sehen uns an. Ich sehe, dass sein Kehlkopf sich bewegt, als er schluckt.
»Wer's Zoey?«
»Du hast's echt vergessen.« Christian verzieht das Gesicht zu einem Lachen. Ich kauf's ihm trotzdem nicht ab. Ich wende mich von seinen Augen ab, als blau blau schneidet, ganz kurz. Ich strecke die Hand mit dem Ball aus.
»Hier.« Meine Stimme versagt kurz. Dann stoße ich ein Glucksen hervor. Ich schmeiß ihm den Ball auf dem letzten Meter zu und er fängt ihn. Als ich zur Seite gucke, sehe ich, dass Tory uns nacheinander ansieht. Ich lächle sie an, während meine Finger krampfen. Was für ein sentimentales Scheißgeschenk, was für ein-
»Das ist nicht das, wofür ich es halte?« Christian lacht schon leise, diesmal klingt es anders.
»Es is' kein UFO, falls du's dafür hältst.«
»Basketballteam in der High School, bevor wir den Abschluss gemacht haben?«
»Bingo.«
»Hab den Plan nie umgesetzt. Da hattest du ausnahmsweise mal den kreativen Plan.«
»Hab mindestens dreißig Mal mehr Kreativität in allen Aufgaben im Kunstunterricht gezeigt, tu nich' so, Redford«, spotte ich. Mein Blick zuckt doch hoch, aber er verdreht grad die Augen.
»Ja? Ich erinnere mich nur an das Haus. Es sollte braun wer-«
»Es war braun, kackbraun, sie's nur blind gewese-«
»Klatschmohnrot war es, ich hab's gesehen. Du kannst schon kaum Farben auseinanderhalten, da bist du entsprechend von Kreativität weit entfernt.«
»Du glaubst auch nur, was du glauben willst.« Die Spannung in meinen Schultern lässt nach. Ich will sie hochziehen. Ich will mich zusammenreißen. Es ist nichts, es ist gar nichts.
Als ich mich wieder an die Couch wende, auf der Tory wieder Platz genommen hat und zwei Schritte getan habe, hält er mich am Arm fest.
Als ich zucke, zuckt er auch. Er lässt los. Ich drehe mich zu ihm um. Ich sehe ihm ins Gesicht.
Im Licht hier, das ich so gut kenne, kenne ich auch wieder alles in seinen Zügen: Die Wölbung seiner Unterlippe, das Grau im Blau seiner Augen, eine einzelne verirrte Sommersprosse neben seinem inneren Augenwinkel an der rechten Seite.
»Danke«, sagt er dann nur. Ich ziehe einen Mundwinkel hoch. Er erwidert mein Lächeln. Ich muss mich abwenden. Ich setze mich auf die Couch. Ich gucke zu Tory, an die ich mich ganz anders erinnert habe: Ihr Gesicht war spitzer, ihre Augen kälter, der Zug ihren Mund härter. Aber sie trägt dunkle Haare lockig auf den Rücken fallend, den Mund dunkel geschminkt, die hellen Augen im Licht schimmernd.
»Ihr wart zusammen im Basketballteam?«, fragt sie dann an mich gewandt. Ich zucke mir den Schultern.
»Ja. High School.«
»Wart ihr wenigstens ein gutes Team? Wir hatten auch in Basketballteam, aber es war nur so mittelmäßig. Das hat nie dafür gsorgt, dass ich Ambition hatte, mich auch damit zu beschäftigen.«
»Ja, 's war ok. Haben wenigstens nicht regelmäßig verloren.«
»Haben wir zwischendurch, wenn James mehr als eine Auszeit gekiegt hat. Eine gab's immer pro Spiel«, spottet Christian. Ich presse ein Glucksen hervor.
»Sagt der, der nie was auf die Reihe bekam. Hat Center gespielt und ich musste Körbe machen.«
»Nein, musste er nicht.« Christian winkt ab und streckt die Beine aus. »Ich hab's immer so geschafft.«
»Er's nichtmal bis in die Defensive zurückgegangen, aber hat sich immer Mannschaftskapitätn genannt. Dabei hätte wir ihn gebraucht. Es war'n scheiß Zeiten manchmal mit ihm«, sage ich. Am Ende sackt meine Stimme ab. Christian macht nochmal den Mund auf, aber keiner sagt was. Stattdessen kommt Anthony durch die Tür. Ich seh zu Tory, aber sie ist abgelenkt. Christian dahinter schüttelt den Kopf, über irgendwas und irgendwen.
»Hallo hallo, ich sehe ihr habt schon gewartet«, begrüßt Christians Halbbruder uns und kommt auf uns zu. Er ist mittelgroß und dunkelhaarig Durch die vielen Locken ist er Harry viel ähnlicher als es Christian ist. »Das Väterchen ist derzeit noch in seinem Büro und anscheinend wird man ihn von dort nicht in den nächsten fünf Minuten loseisen können. Wie ich sehe, haben wir auch noch Zuwachs bekommen. James, dich hat man ja auch schon lange nicht mehr gesehen«, begrüßt er mich. Ich stehe auf. Wir schütteln uns die Hand.
»Ich war in Phoenix«, sage ich tonlos. Anthony verzieht das Gesicht.
»Ja, von dem armen Städchen hab ich auch was gehört. Soll schön da sein. Wie's aussieht hast du damit auch die meiste Winterbräune von uns allen, du seist gelobt.«
»Bis wann arbeitet Dad denn noch?«, redet Christian in Anthonys Gefasel rein. Indessen gehe ich rüber zum Fenster und schiebe den Vorhang beiseite. Das Gras ist grau vom Schnee, die Terrasse ist sauber abgefegt. Die großen Lebensbäume stehen wie Säulen mitten im Garten.
»Bis um sechs.«
»Nicht bis um acht?« Christian schnaubt. Anthony seufzt.
»Chrissi, Dad ist auch nicht mehr der Jüngste. Er hat tatsächlich seine Sonntagszeiten gekürzt. Na und für deinen Geburtstag doch ganz besonders, du bist sein Lieblingsjunge, abgesehen von James und mir. Und natürlich Frank und Gerit und Co. Alle anderen eben.«
»Anthony-«
»Ich wollte deiner Teuersten gerade sowieso die Bibliothek zeigen, wenn du es mir erlaubst?«
Als ich mich umdrehe, steht Anthony immer noch da, einen Daumen in der Hosentasche. Christian ist neben der Couch, Tory sitzt auf der Lehne. Sie sind dicht zusammen. Er legt ihr eine Hand auf die Schulter.
»Wollen wir nicht einfach auf Dad-«
»Christian«, setzt Tory an. Sie steht auf. Als sie sich ihm zuwendet, die Hände auf seine Brust legt, wende ich mich wieder ab.
Vor meinem inneren Auge läuft ein Video ab. Tory sagt: »Ich wollte die Bibliothek eh sehen.«
Ich kann mir seinen daraufhin gequälten Blick perfekt vorstellen, als wäre es ein Widerwort. Aber dann zuckt er mit den Schultern, dann wird’s ihm wahrscheinlich scheißegal, weil er hart und unnachgiebig wird, wie immer.
»Dann macht doch. Anthony, los, zeig ihr die Bibliothek.«
»Könntest du-«, fängt Tory wieder an, aber Christians Halbbruder schaltet sich ein.
»Na wunderbar, dass wir alles im Leben so konfliktfrei lösen können. Wie wär's, wenn du mit James draußen noch ein bisschen Ball spielst, während ich ihr von den Klassikern erzähle?«
»Hör nicht auf ihn, Tory, Anthony hat in seinem Leben noch nie ein Buch angerührt.«
»Nun übertreibst du aber«, antwortet er. Ich lache sogar fast. Ihre Schritte entfernen sich. Mir bleibt das Geräusch meines rasselnden Atems. Christian sagt was. Ich mach die Gardine wieder zu.
»Er's einfach ...«
»'nen Arschloch?« Als ich mich umdrehe und ihn wieder ansehe, sind seine Züge immer noch verzerrt. Er schüttelt den Kopf.
»Und was für eins. Und wow, Dad arbeitet noch. Wer hat uns doch gleich eingeladen?«
»Fuck drauf«, sage ich tonlos, als er sich wegdreht und von einer Stelle zur anderen geht. »Es is' dein Dad. Er's halt so, vergiss es einfach. Und vergiss erst recht deinen bescheuerten Halbbruder.«
»Der ihr jetzt was von Klassikern sagt, wenn-«
»Lass ihn doch labern. Es is' nur Anthony.«
Christian hält inne. Dann lässt er die Arme fallen und guckt mich an. Ich krieg ein Stechen, das mich von linksseitig komplett ausknocken will.
»Ja. Ja, Mann, du hast recht.«
»Ich erinner' dich dran«, erwidere ich tonlos, dann drehe ich mich zur Balkontür, die Distanz zwischen uns beiden, die ich brauchen kann. Ein Zimmer, mehrere Häuser, ein paar Bundesstaaten, wie ich mich grad dran zu gewöhnen anfing.
»Hey. James.«
»Was is'?«
»Ich hab den Ball. Benutzen wir ihn?«
»Da sind Unterschriten drauf. Geht alles ab«, weiche ich aus. Ich warte, dass ich seine Schritte höre und er näher kommt. Er verharrt. Ich zähle die Rifflungen im Holzrahmen des Fensters.
»Wir prellen nicht. Wir werfen ihn uns zu. Alte Aufwärmübung.«
»Wann? Nicht mal mehr in der Middle School haben wir die Scheiße so gemacht oder?«
»Doch, ich glaub schon.« Jetzt höre ich, dass er sich bewegt. Aber es sind nur zwei Schritte. Ich schüttle den Kopf. Ich lache über ihn. Dann über mich. Ich mach die Balkontür auf und gehe raus.
Ich hab keine Jacke an, deswegen kriecht mir die Kälte sofort auf die Haut und stellt die Härchen dort auf. Der Schweiß in meinem Nacken wird kalt, aber die Linie, die das Gefühl unter meiner Haut an meiner Wirbelsäule entlangzieht, ist heiß. Christian geht hinter mir aus. Die Tür rastet ein.
»Und jetz'? Machen wir ein' auf Middle School?«, frage ich tonlos. Als ich mich umdrehe, sieht er mich unverwandt an. Dann zuckt er mit den Schultern. Und zögert.
»Ich bin so jung wie ich nie mehr sein werde. Und war der Middle School nie näher, als ich es jetzt noch bin«, erwidert Christian. Er geht ein Stück an mir vorbei, weiter auf die Terrasse. Unter seinem khakifarbenden Pullover sehe ich, wie sich seine Schultern bewegen. »Klingt das nach 'ner Begründung?«
»Sie's mega lahm.«
»Es ist mein Geburtstag?«
»Es wird immer beschissener mit dir«, würge ich hervor, aber gehe ihm ein Stück entgegen.
Als ich stehen bleibe und meine Hände aus den Taschen ziehen, zittern sie immer noch. Die Gänsehaut liegt immer noch wie ein fester Film auf meiner Haut.
Christian stellt sich zweieinhalb Meter weg von mir. Auf dem Weg dorthin schüttelt er den Kopf, als würde er immer wieder etwas vor sich selbst verneinen. Das Licht fällt dabei in seine Haare und bildet ein goldenes Lichtspiel.
»Du hast nicht unterschrieben«, sagt er, als er sich umdreht. Er spielt rüber. Ich fange.
»War meiner, wieso sollt' ich dann drauf unterschreiben. Und ich hatt keinen Abschluss, das war'n die, die's geschafft haben«, spotte ich. Er fängt ebenfalls meinen Wurf. Ich hab die Reibung von der dünnen Beschichtung und ein Kribbeln in der Haut.
»Teamgeist. Der Vollständigkeit halber.«
»Man hätt'st du's nur vor zehn Jahren gesagt.«
»Ja, jetzt ist es zu spät.« Wir spielen uns zweimal zu. »Aber er gehört mir. Ich frag Neveah nachher nach 'nem Edding.«
Ich halte beim nächsten Pass inne. Als ich ihm einen Blick zuschieße, runzelt er die Stirn.
»Man, 's verfälscht alles. Hab vor zehn Jahren nicht unterschrieben, wie ich's heute mache.«
»Verlernt zu schreiben?«
»Man, is' das nich' grad 'nen Witz gewesen, den Christian Redford nich' machen darf?«
Er hebt abwehrend die Hände. Ich nutze den Moment und spiele ihm zu. Er fängt den Ball trotzdem.
»Erwischt.«
»Hab's gewusst.«
Er passt wieder zurück. Wir spielen ihn noch zweimal hin und her. Meine Hände sind taub von der Kälte. Ich lache einmal laut, als er sinnloserweise den Ball fängt und dann versehentlich wieder loslässt. Ich krieg ihn anschließend beinahe an den Schädel.
»Sag was über Phoenix«, sagt Christian zu mir und hält den Ball fest. Blau schneidet blau. Seine Nase und seine Ohren sind knallrot von der Kälte. Mir steigt sie vom Genick bis in den Kopf hinein.
»Was willst du hören? Bessres Wetter. Ich würd dich abziehen. Aber grad hab ich zuviel Mitleid.«
»Als könntest du jemals Mitleid haben«, stellt er mich infrage. »Was ist mit der Weiterbildung? Machst du die hier?«
»Was wird’s hier? 'nen Verhör?«
Christian hebt den Blick. Wir sehen uns an.
»Wie sagst du? 'ne stinknormale Frage war's. Sorry.« Er hebt abwehrend die Hände. Ich stoße ein Lachen aus. Ich hab keine Kontraktion im Zwerchfell dabei.
»Vergiss es. Ne, ich mein … Ja, ich mach's hier weiter.« Ich frag ihn fast, woher er überhaupt davon weiß, wenn ich nicht mal wusste, ob er grad mit Tory zusammen ist oder nicht. »Ist halt so ein Uniding. Stephan bezahlt's und am Ende mach ich 'nen Diplom und krieg 'nen schickes Büro.«
»Das ist mega gut. Ich freu mich für dich.« Er wirft den Ball aus einer lockeren Handbewegung rüber. Ich halte ihn fest. Christian zieht den Mundwinkel hoch. »Du hast es dir verdient.«
»Mit deinem Alten hab ich's mir verdient«, antworte ich. Mein Herz ist laut und die Ader an meinem Hals tut vom Pulsieren weh, aber ich gehe dichter. Als wir nebeneinander stehen und in den Garten starren, der im Februar tot und unfruchtbar aussieht, schwärmt seine Körperwärme in meine. »Er's echt verrückt, manchmal.«
»Ja, manchmal kommt's vor«, erwidert Christian. Seine Stimme wird immer leiser. Ich senke den Blick, zu den Rändern der Terrasse. Christian will was sagen. Ich sag was, bevor er mir Gründe gibt, das Gespräch mit ihm zu bereuen. »Hey, man, der Wintergarten da drüben, weißt du noch, als du runtergeflogen bist?«
»Das warst du und außerdem hab ich dich damals gerettet.«
»Erzähl keine Scheiße, du kamst da nicht mal hoch.« Als ich einen Blick zurück zu ihm werfe, hat er sich umgedreht – er lehnt mit dem Rücken am Treppenhalter. Seine Augen ziehen die langen Linien des rechteckigen Gebäudes sorgfältig nach.
»Du auch nicht, nur hab ich's gar nicht so sehr versucht.«
»Also gibst du's zu? Dass du's nich' konntest und ich schon?«
»James-«
»Kannst es ruhig sagen, ist keine Schande, müssen Leute ständig machen«, spotte ich und gehe langsam in die Richtung des Wintergartens. Er ist mit dickem Glas verkleidet und das Dach ist voller Schnee, sodass es darin düster und geisterhaft wirkt.
Als ich hinter mir Schritte höre, lache ich sogar, auch wenn mein Puls zu laut ist, das Blut in meinen Ohren zu heiß und zu schnell durch meinen Körper pumpt und dabei alle Hürden umstößt.
»Man, du verdrehst du Tatsachen«, sagt Christian dann und als ich zurücksehe, grinst er und ich grinse und ich vergesse einen Moment alles, als er darauf deutet. »Du bist fast runtergetorkelt. Ich bin vom Fenster aus raufgesprungen.«
»Weil du einfach abgefuckt warst und beschissen hast.«
»Wow, sagst du mir das grad, wo du zu dem Zeitpunkt auf Halluzinogenen warst und nur bunte Farben gesehen hast?«
»Mag sein, aber stand oben. Raufgeklettert.«
Christian schüttelt den Kopf und sieht dann hoch, zum Schnee. Ich sehe zu. Meine Hände werden von innen warm. Ich sehe zur Tür. Zur Türklinke. Zu den Fensterbrettern und der Regenrinne.
»Mir ist schleierhaft, wie du's angestellt hast.« Seine Stimme hat einen seltsamen Klang angenommen. Als ich einen Blick zurückwerfe, hat er den Mund offen, aber schließt ihn wieder. Er gluckst sogar und schüttelt den Kopf. »Nicht dein Ernst.«
»Ich mach nix.« Abwehrend hebe ich die Hände, bevor ich mich abwende und rübergehe. »Es is' nen Wintergarten. Ich wette, ich bin vor dir oben. Wie schon immer.«
»Zettle das nicht an. Du verkackst es.« Seine Stimme zittert. Ich auch. Meine Beine. Meine Arme. Meine Hände.
»Sieh zu, Redford. Und heul nachher nicht, weil ich von Anfang an recht hatte.«
Ich zwinkere ihm zu. Er verdreht die Augen. Dann guckt er nochmal zum Wintergarten. Ich verpasse den ersten Moment, in dem er losrennt, dann hechte ich hinterher.
Christian flucht, als ich ihn in den Schnee stoße, aber grölt laut, als er meinen Fuß festhält und ich vorneüberfalle.
»Du Wichser«, stoße ich hervor, und schubse ihn vor der Tür weg, dessen Klinke, plus dem Rahmen des Fensters und des Bretts darüber, die perfekte Ausgangsposition bildet. »Bescheißt, wie vorher schon.«
»Ich mach nichts«, presst er atemlos hervor und schiebt mich beiseite, woraufhin ich ihn wieder beiseite schubse und dann den Fuß auf die Klinke kriege. Er lacht laut und atemlos, das Geräusch ein weiches Streicheln in meinem Kopf.
»Ich lass dich grad gewinnen!«, ruft er mir hinterher, als ich nach dem Fensterbrett hangle, die Zehe in den Stiefeln auf dem glatten herausstehenden Stück des Rahmenes, zweieihalb Meter vom Dach entfernt, ein Stechen in der Wade, ein luftiges Gefühl unter mir, das Pulsieren meines Körpers in der Luft wie ein Warnlicht. Meine Lunge schreit nach Atem und ich würge daran, den Körper platt an die Hauswand gedrückt.
»Laber keinen Scheiß!«, rufe ich trotzdem zurück. Ich drehe mich zur Seite und suche die Stelle für Schritt Nummer drei, mit den Fingern über das feuchte Metall des Fensterbretts über mir tastend, immer meinem Ziel entgegen.
Links von mir ist die Regenrinne, die Stelle, wo sich zwei Teile ineinandersetzen, die Schraube mit einer Mutter befestigt, wahrscheinlich schon seit Ewigkeiten dort, höher gesetzt als der Rahmen, auf dem ich grad stehe, praktisch ein Riesenschritt hoch.
Es sticht in meinem Inneren, aber ich höre Christian hinter mir nachkommen, sodass ich kopfschüttelnd lache. Ich mach's.
Meine Muskeln rebellieren. Es tut beim Luftholen weh und ich krieg nicht genug Sauerstoff, aber ein Rasen in meinem Inneren, wo meine Organe sich gefühlt zusammenziehen und alles in mir schmaler wird. Ich stehe kurz darauf und hangle mich dann zum Fenster rüber.
»Oh Gooott«, stoße ich hervor, als ich am Fensterbrett hänge und mich hochziehe. Christian lacht unter mir atemlos.
»Was ist, alles … alles klar?«
»'s perfekt, fuck mich ab, ich sterb«, würge ich hervor, ich zittere von der Anstrengung, aber ich krieg mich hoch und setz mich auf das Brett. Ich ächze, aber gebe mir einen Ruck. Ich richte mich auf, bis ich stehe, die Beine auf dem Brett, die Hände unten halten, in das ausgehobene Stück des Fensters, um mich zu halten. Bis zum Dach des Wintergartens sind's noch zwei Schritte.
Hängt Christian noch am Fensterrahmen, stützt sich an die Rinne und guckt hoch. Seine Wangen sind gerötet. Alle Krämpfe lösen sich kurz. Ich mach weiter.
Alles tut weh, aber ich mach genau das gleiche wie eben, nur nach links. Den Schritt zur Regenrinne, dann mit den Händen zum Fenster, bis zum äußersten Rand. Dann lasse ich los.
Der Schnee knarrt unter meinen Stiefeln. Ich taumle kurz. Mein Herz rast und kurz franst alles in meiner Sicht aus, dann wird alles klar.
»FUCK«, schreie ich regelrecht vom Wintergarten herunter und als ich in überdrehtem Gelächter ausbreche, höre ich Christian, der neben mir landet. Sein Arm stößt gegen meinen und als ich ihn ansehe, glänzen seine Augen. Sein Pullover ist verdunkelt. Seine Haut riecht von Nahem wässrig, nach frischem Schweiß und vertraut. Kleine Falten sind an seinen Augenwinkeln beim Lachen, als er sich vorneüberbeugt und auf seine Knie stützt. Ich lehne mich an die Hauswand.
»Fuck ist kein Ausdruck. Oh Gott, was für eine Scheiße.« Er lacht immer noch. Ich auch. Ich rolle mich an der Wand entlang, die heftige Kontraktion meines Zwerchfells nicht kontrollierbar.
Wir grölen sinnlos rum und lachen uns ins Gesicht. Ich kriege grad alles von ihm und bin mich unkontrolliert und fühle mich nur heftigst wie ich selbst, als er gegen meine Schulter stößt und ich gegen seine und wir dann gleichzeitig nach Luft schnappen. Er schüttelt den Kopf. Ich vibriere immer noch, von der Kälte unerreicht.
»Oh Goott, ich fass 's nich', was das für'n abgefuckter Weg, oh Gott. Weiß nich', wie ich's damals angestellt hab.«
»Da haben wir das ständig gemacht. Auf Häuser geklettert und so.«
»Fuck, Mann, ich hatte Glibberarme und jetzt? Jetz' verreck ich fast an 'nem Fensterbrett?«
»Mit Sicherheit war das auch nicht die Route, die wir hatten, die hätten wir damals niemals geschafft. Aber wir sahen mit Sicherheit geschickter aus.« Er stößt heftig Luft aus. Ich lehne meinen Kopf an. Als ich meine Hände angucke, sind Muster der Kanten darin zu sehen.
»Kein Plan. Aber ich hab gewonn'.«
»Schon vergessen? Ich hab dich gewinnen lassen.«
»Vergiss's. Verloren, Redford. Gib's zu.«
»Es ist mein Geburtstag, heute verliere ich nicht.«
»Doch. Man, das is' wegen deines Alters. Seh ich graue Haare?«, spotte ich, aber er lacht nur. Als ich ihn angucke, sieht er geradeaus in den Garten, der von hier oben stark verkleinert wirkt.
»Ich frag mich eher, wie wir hier runter kamen«, sagt er.
»Kein Plan. Durch's Fenster wieder rein?«
»Wahrscheinlich. Mit Leiter.«
»Man. Mit Leiter. Was für Loser wir war'n.«
»Stoned Loser, das ändert 'ne Menge«, erklärt er und ich nicke, ehe ich langsam über das Dach gehe. Der Schnee pappt unter meinen Füßen zusammen. Ich sehe mir selbst bei jedem Schritt zu.
Christians Stimme klingt leichthin. »Man, wenn Neveah das rauskriegt. Wir sind dran.«
»Man, scheiß drauf. Machen ja kein Seilspringen hier drauf.«
»Ist auch besser so. Keine Ahnung, was das Ding aushält.« Er löst sich ebenfalls von der Wand. Wir laufen aneineinander vorbei über die unberührten Stellen des weißen Niederschlags. Die Kälte frisst sich in mich und in meine Kleidung und die nassen Stellen, aber ich fühl mich wie in einem sicheren, viereckigen Raum, abgeschnitten von der Vergangenheit außer der aus den letzten Stunden. Ich bin in dem Raum mit ihm, nur mit ihm.
»Was hab'n wir hier eigentlich gemacht?«, frag ich und schippe Schnee an der Kante runter. Aus dem Augenwinkel seh ich, dass er mit den Schultern zuckt.
»Nichts Richtiges. Ich glaub, du hattest nur die bescheuerte Idee, hier hochzusteigen.«
»Ich hab's hingekriegt.«
»Weil du lauter lebensmüde Sachen hinkriegst und fast draufgehst, wenn du das Licht anmachen sollst, stimmt«, zieht er mich auf. Ich feixe und winke ab. Er taucht und dem Schnee weg, den ich nach ihm werfe.
»Laber kein' Scheiß.«
»Ich laber keinen-« Er unterbricht sich und runzelt die Stirn, bevor er sein Handy aus der Tasche zieht. Meine Augenbraue zuckt.
»Was is'?«
»Wird Zeit für's Essen.«
Wir gucken uns an. Dann den Weg runter.
»Oh fuck, man«, stoße ich hervor. Christian würgt ein Husten hervor.
»Ja. Okay. Runter.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich lass dich gewinnen. Geh vor.«
»Was dann? Springste in meine Arme? Das wird nix, Redford«, spotte ich, doch er verdreht nur die Augen. Keiner von uns bewegt sich. Ich überlege immer noch, wie ich am geschicktesten runtergehe, als er wieder was sagt.
»Wir gehen durch's Fenster«, sagt er dann. Und geht an mir vorbei.
»Dein fucking Ernst«, stoße ich hervor, als er zurück zum Fenster geht. Ans Brett ranspringt. Und sich hochzieht und sich hinsetzt. Dann stößt er das Fenster auf.
»Mein fucking Ernst. Schaffst du's?«, zieht er mich auf, aber lacht nur, als ich Schnee nach ihm schmeiße und ihn am Bein treffe. Dann verschwindet er rein.
Ich mach das Gleiche und wische vorher meine Hände an meinen Hosen trocken. Mein Bizeps und meine Schultern brennen von der Anstrengung, aber ich ziehe mich hoch. Christian steht schon im Zimmer und klopft sich die Hosen ab. Die aufsteigende Wärme frisst sich in mich hinein, schlagartig, und stellt die Haare an meinem Körper auf. Mein Körper pulsiert wie eine offene Wunde und meine Hände brennen, obwohl sie eiskalt sind.
Als er sich aufrichtet, schneidet blau blau. Seine Haare sind zerzaust und sehen aus, als lägen Spuren fremder Hände darin. In meinen sind nur die Spuren von harten Kanten, die nicht davon sein könnten, so sehr ich es auch will.
Wir verharren. Ich kriege keinen Atem runter und die Worte nicht raus.
»Alles Gute«, sage ich dann lahm. »Mach keine Scheiße.«
»Wie könnte ich«, sagt er tonlos, »wenn du sie immer machst?«
Wir lachen beide. Wir geben uns einen Handschlag. Seine Haut ist sicher und vertraut. Wir halten unsere Finger fest, einen Moment, dann lass wir los. Ich sag: »Man, komm, lass gehen.« Er klopft gegen meine Schulter und antwortet: »Ja, alles klar.«
Dann gehen wir. Ich fühl mich weich, bis wir durch die Tür sind, dann wieder wie in Stein gemeißelt, als ich Tory unten im Korridor reden höre.
»James, mein Junge!«, dröhnt Harry allerdings als erstes los, als wir unten ankommen. Tory rauscht an mir vorbei zu Christian. Ich hieve ein das Lächeln auf die Lippen. »Da bist du ja, ich hab das ganze Haus nach dir abgesucht!«
»Wir waren die ganze Zeit hier«, sagt Christian Als ich mich nach ihm umdrehe, steht Tory neben ihm und er sieht ihn an. Die Linien in seinem Gesicht werden tiefer. »Bist du fertig mit der Arbeit?«
»Na, na, nicht so feindselig, was getan werden muss, muss getan werden.«
»Man, ich werd auch zum Tier, wenn's nicht bald was zum Essen gibt«, scherze ich dumpf. Harry lacht lauthals und überspielt es zusammen mit mir.
»Keine Ungeduld, bald gibt’s was. Ich will dich nur noch mal eine Minute entführen, ginge das?«
»Ja, alles klar. Worum geht’s?«
»Nur eine Klitzekleinigkeit, dauert zehn Minuten.«
»Harry, das Essen steht so gut wie auf dem Tisch«, mischt Neveah sich ein. Er ignoriert sie.
»Aber erst ins Büro, wenn du unsere charmante Schwiegertochter schon begrüßt hast.«
»James und ich haben uns schon ein bisschen unterhalten«, sagt Tory, der die Röte wieder in die Wangen schießt. Ich neige nur den Kopf und sehe Christian an. Er guckt zurück. In mir ruckelt es, als Tory ihre Hand gegen seinen Arm lehnt, aber ich zwinkere. Er zwinkert zurück. Ich wende mich ab. Harry deutet durch den Türbogen, also gehe ich mit.
»Wie sieht's aus bei dir, James? Wie läuft die Uni? Was macht Stephan?«, fragt Harry mich, als wir die Eingangshalle passieren und dann durch einen schmalen Gang, an dem rechts und links Türen abführen, gehen.
»Läuft mega«, sage ich und gehe mit ihm ins Büro. Hier ist alles ebenso futuristisch und hässlich wie im Wohnzimmer und einem grässlichen LED-Springbrunnen, der langsam die Farbe wechselt. »Vermiss Phoenix ein bisschen. Das Wetter war nicht so beschissen.«
»Ich kann dir sagen, dass du dann niemals nach Kapstadt reisen solltest«, antwortet er und deutet auf das weiße Ledersofa, ehe er zu seiner Vitrine geht. »Wie wär's mit 'nem Schluck Scotch?«
»Ich muss noch fahren.«
»Achtundzwanzig und schon so pflichtbewusst«, trötet er lautstark los. Ich lache unterdrückt und lasse mich auf die Couch fallen.
Harry gießt sich selbst ein. Er wirkt wie ein Fremdkörper im übertrieben modernisierten Büro: Die grauen Haare zu einem krausen Zopf zusammengebunden, wuchernder Vollbart, die massige Statur in einen Anzug gepresst, das Jackett offen, die Schuhe glänzen, als wären sie frisch poliert.
Mit breitem Grinsen lässt er sich auf den Sessel neben mich fallen. Er lehnt sich zurück und schlägt die Knöchel übereinander.
»Ich muss ja sagen, ich bin froh, dass du wirklich aufgetaucht bist. Christian hat schon Zicken gemacht, weil er überhaupt herkommen musste. Der Junge tut immer so, als wäre es ein Verbrechen, hier zu sein.«
Ich mache den Mund auf, aber bin dankbar, dass ich dazu nichts sagen muss, als er weiterredet.
»Ich meine, er hat ein gutes Leben! Ich versuche nur, wieder ein Teil davon zu werden. Torina ist wirklich ein liebes Kind oder?«
Ich würge ein Lachen hervor. »Es is' halt Christian und Tory-«
»Tut ihm gut, das Mädchen, jawohl! Das sollten wir nicht vergessen. Harrr, ich hab noch ganz große Hoffnungen, dass er was draus machen wird.« Sinnierend nippt er an seinem Glas, bevor er es wieder umherschwenkt. »Aber papperlapapp, wen interessiert's, also bisher, jetzt will ich erstmal was mit dir bequatschen, hast du 'ne Minute Zeit für den alten Herrn?«
»Sicher, worum-«
»Wunderbar, wunderbar.« Er lehnt sich nach vorn und stellt sein Glas auf den Tisch, ehe er sich mir zuwendet. Ich guck ihn an und versuch zu ignorieren, dass die einzige Ähnlichkeit, die Christian und sein Vater haben, die Augen sind, und mich der Blick bis ins Mark trifft. »James, ich halte eine Menge von dir. Damals schon, als wir uns kennengelernt haben und du noch ein kleiner Bengel gewesen bist, hab ich's schon gewusst, dass aus dir mal was ganz Großes wird. Und ich hab dich auf dem Weg unterstützt. Werd ich auch selbstverständlich weiterhin tun.«
»Ich weiß. Kein Plan, wo ich ohne dich wäre«, antworte ich wahrheitsgetreu. Er strahlt daraufhin, ehe er auf seine Oberschenkel klopft, sich erhebt und mir andeutet, dass ich es ihm gleichtun soll.
»Ja, das weiß keiner, sag ich da nur. Aber jetzt brauch ich mal deine Hilfe.«
»Worum geht’s?«, frage ich sofort und bleibe vor dem Schreibtisch stehen. Harry stellt sich dahinter und öffnet die Schublade. Heraus zieht er ein Kästchen. Er hält es hoch.
»Sarahs und mein Hochzeitsring. Die Arme wollte es einfach nicht behalten. Naja, wie dem auch sei.« Er schmeißt sich wieder auf den Stuhl. Ich stehe da. Meine Hände sind warm, aber ich spüre sie nicht als ich die Tischkante berühre. Zwischen meinen Ohren summt es wie ein Bienenschwarm.
»Christian und ich sind ja bekanntermaßen nicht ganz warm miteinander. Nun ist mir aber durch Neveah zu Ohren gekommen, dass der Gute sie nach diesen beiden Ringen gefragt hat. Für sich und Torina, versteht sich.« Er wedelt wieder mit der Schachtel rum. Mir drischt was auf die Brust. Ich atme durch den Mund, sehr leise. Ich sehe zu der Box. »Nun hat er allerdings einige Zweifel, keine Ahnung, frag mich nicht wieso. Er ist halt auch nur ein unsicherer fast Dreißiger, was hier kein Mensch kapiert, aber so seid ihr jungen Leute halt.« Harry seufzt tief. »Mit mir will er nunmal nicht über dieses Thema sprechen, aber ich möchte, dass er unterstützt wird, wenn er seiner Torina einen Antrag macht und dabei kann ich nur auf dich zählen.«
Ein Antrag. Heiraten. Mein Inneres dreht sich an einer Spirale hoch. Man. Man. Man. Ein Ring.
»Ja. Klar«, hör ich mich sagen. Ich stell mir Christian mit Ring vor, und Tory. Was für 'nen Anblick.
Mein Herz scheint mir die Brust aufzusprengen. Mein Gesicht ist taub. Ich höre kurz auf, irgendwelche Farben zu sehen.
»Das ist wunderbar. Mein Sohn ist ein verrückter Kauz, der manchmal einfach nicht zu händeln ist, aber jetzt wo du wieder da bist, hab ich echte Hoffnungen in ihn. Machen wir uns nichts vor, du bist seine bessere Hälfte. Abgesehen von Tory natürlich, die wird für sein l_ben noch einiges bestimmender sein als zu.« Harry lacht grölend. Ich lache nicht. Ich nicke. Dann nochmal. Und wieder. Ich erinnere mich: Ich nicke zu oft. Ich erkenne meine Stimme nicht.
»Alles klar.«
»Großartig, großartig.« Harry steht wieder auf und schmeißt das Kästchen wieder zurück in die Schublade. Dann stellt er sich neben mich und klopft mir auf den Rücken, ehe er mich Richtung Tür schubst, laut lachend. »Man, das wird ein Heidenspaß. Einmal freue ich mich für meinen Sohn. Das ist quasi ein vierfacherfolg. Ich, du, Tory, Christian. Hammer!«
Wir gehen zurück. Ich entschuldige mich und verschwinde auf dem Klo. Ich kipp mir kaltes Wasser ins Gesicht und warte darauf, dass sich alles aus mir herausprügelt. Ich geb meinen Beinen Ruhe und sacke auf dem Klodeckel zusammen. Ich verstecke mich hinter meinen Händen. Ich versuche es wirklich.
Ein Ring. Natürlich helfe ich, wenn Christian Tory einen Ring geben will.


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 Betreff des Beitrags: [CHRISTIAN] KAPITEL 04
BeitragVerfasst: Fr 18. Aug 2017, 20:29 
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[CHRISTIAN] KAPITEL 04


Ich könnte den ganzen Abend hier stehen, rausstarren. Dads Villa ist wie ein Geisterhaus.Wenn ich von hier aus in den Garten sehen, bewegen sich dunkle Bilder durch meinen Kopf von langen, lauten Nächten und bunten Partys, mit wummernder Musik, während pinke Rauchkringel von bengalischem Feuer sich in den Himmel strecken. Dabei ist der Garten leer und der Himmel dunkel. Es gibt nichts mehr zu sehen.
»Christian. Komm schon«, sagt Tory leise. Ich drehe mich halb zu ihr um, als sie zaghaft an meiner Hand zieht, verzieh den Mund zu einem harten Lächeln. Die anderen sitzen im Wohnzimmer. Obwohl Dad und Anthony sich immer noch laustark unterhalten, kann ich nicht verhindern, dass mein Blick als Erstes zu James schnellt, der in sein Glas starrt, nur um nicht hochzusehen. Ich will verstehen, was passiert ist, dass wir vor zwei Stunden noch auf dem Dach gestanden und ich ihn mit offenem Mund hab lachen sehen und er jetzt seinen Kopf auf der Suche nach einem Versteck in seinen Händen beerdigt. Ich mach schon den Mund auf, als ich unterbrochen werde.
»Christian, da bist du ja endlich! Ich dachte schon, du wärst heimlich abgehauen, weil's so scheiße hier ist, aber Tory kennt dich ja wohl doch um einiges besser! Aber gut, gut, ich hab dir noch gar nicht dein Geschenk gegeben!« Donnernd schlägt Dad die Hände zusammen. Ich straffe die Schultern, atme laut aus. Tory zerquetscht meine Finger fast mit ihren, aber es kommt kaum durch.
»Mein Geschenk?« Ungläubig ziehe ich die Augenbrauen hoch, als Anthony sich zungeschnalzend einschaltet. Er ist mein jüngerer Halbbruder, dem Dad seit seiner Geburt alles in den Arsch geschoben hat, Geld, Zeit, Perspektive, Interesse. Sie passen zusammen, Dad und er, dabei hat er dunkle Locken und dunkle Augen genau wie seine Mutter.
»Ach Chrissi. Schenkt man sich zu Geburtstagen nicht Dinge? Wusstest du das nicht?«
»Das Essen war schon mehr, als ich annehmen will«, weise ich ihn tonlos ab. Er öffnet dramatisch den Mund, doch Dad poltert dazwischen.
»Haaarr, so bescheiden der Junge!«
»Was ist das niedlich«, spottet Anthony. Ich presse die Lippen aufeinander, in meinem Inneren krampft es hart. Ein bitterer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus, doch Neveah schaltet sich an.
»Harold, wolltest du ihm nicht das Geschenk geben?«
»Ich kann nichts mehr annehmen«, wiederhole ich. Ich schüttle Torys Hand ab, als sie mich festhalten will. Ich brauch sie jetzt nicht, um mich zurechtzuweisen. Ich bin hier, weil sie's wollte. Sie kann mich nicht noch dazu bringen, die Scheiße hier gutzufinden.
»Jetzt hab dich doch nicht so. Anthony hat doch vollkommen recht! Du hast ein weiteres Lebensjahr hinter dir und es wird Zeit, dass du dafür belohnt hast!«, legt er los und steht vom Sofa aus, um zu mir zu kommen. Ich verschränke abwehrend die Arme, als er vor mir steht und mich mustert. »Du bist mein Sohn, Christian. Alles Gute.«
Wir sehen uns eine Sekunde in die Augen. Seine haben die gleiche Farbe wie meine, doch ich fühle nichts dabei, außer einem dumpfen Pochen bis hoch in meinen Hals. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, als er eine kleine, schwarze Box herauszieht, die mit Samt bezogen ist.
»Danke.« Ich sehe nicht von Dads Gesicht weg, der mich aufmerksam beobachtet. Eigentlich brauche ich einen Moment, um mich abzuwenden, bis zehn zu zählen, um nicht den Verstand zu verlieren. Ich will nichts von Dad. Nichts. »Aber ich hab's Ernst gemeint. Ihr habt genug getan.«
Es ist plötzlich still im Raum.
»Christian, es ist ein Geschenk«, sagt Neveah streng, doch ich wende den Blick nicht von Dads Gesicht ab, das hart und ausdruckslos wird. Mein Herz schlägt hart und sticht fast aus mir heraus, als er schließlich brüllend zu lachen anfängt und sich mit der freien Hand auf den Schenkel schlägt.
»So bescheiden! Oha, hätte ich gewusst wie bescheiden deine Mutter dich aufgezogen hätte, dann hätten wir auch auf einer Farm essen können!«, grölt er und ich schüttle den Kopf, wende mich ab, bevor ich komplett durchplatze und irgendwas sage. Aber ich komm nicht dazu, die Scheiße hinter mir zu lassen, weil ich Dads Hand an meiner Schulter spüre, an der er mich zurückhält.
»Komm schon, Junge, sei nicht so verkrampft. Hier, nimm's an. Es bleibt unter uns.« Er zwinkert in meine Richtung, als ich mich umdrehe, und mich seinem Griff entziehe und er mir die Box gegen die Brust drückt. Ich schneide eine Grimasse.
»Was ist da drin?«
»Mach's doch auf und finde es heraus, wie wäre es damit?« Tory stellt sich versöhnlich dichter zu mir, ihre Finger tänzeln beruhigend über meinen Rücken, sie mal langsam mit den Nägel ein O und ein K hinein. Okay. Nur das es das nicht ist. Ich brauch ihr Okay nicht.
Ich sehe zu James. Er sieht verzieht das Gesicht. Und ich kapier das schon: Mach die Scheiße einfach auf und bring's hinter dich.
»Wow. Gewonnen, ihr habt gewonnen«, würge ich hervor und klapp die Box hoch. Eine Uhr liegt im Inneren, auf dem silberfarbenen Ziffernblatt sind keine Zahlen zu sehen, nur die drei Zeiger. Sie ist schon gestellt.
Ich verkrampfe meine Hand um die Box, die ich wieder zuklappe und Dad wieder ansehe.
»Und? Die sieht doch der Hammer aus!«, donnert er zufrieden und dreht sich freudestrahlend wieder um, während ich Tory die Box in die Hand drücke. Sie steckt sie wortlos in ihre Handtasche. »Ich war echt 'ne Ewigkeit unterwegs, um die auszusuchen!«
»Wir hätten dir auch eine von Desireé gekauft, aber die waren alle nicht so dein ...« Anthony lässt den Satz kurz in der Luft hängen und mustert mich. »Dein Stil.«
»Davon bin ich überzeugt«, entgegne ich trocken.
»Willst du sie nicht anlegen?«, fragt Neveah dazwischen und dreht sich zu mir. »Sie steht dir bestimmt ausgezeichnet.«
»Tory hat sie schon eingepackt. Ein andernmal.« Ich schneide eine Grimasse und gehe rüber auf die andere Seite des Tisches, wo mein Glas steht, gegenüber dem von James. Er schiebt's ein Stück zu mir rüber, ohne mich anzusehen. Ich will ihn anscheißen, wieso er mich hängen lässt, aber bring nichts raus und suche nach seiner Wärme in der Luft zwischen uns.
Sie ist nicht da: Es ist immer noch kalt.
»Naah, bevor du dich hinsetzt, Christian«, setzt Dad an. »Ich hab noch was für dich. Super wichtig, wir müssen was besprechen.«
»Ich wüsste nicht, was es noch zu sagen gibt. Ich bin schon zu glücklich mit der Uhr«, erwidere ich, doch er wedelt es weg wie schlechte Luft und deutet auf seine Tür.
»Auf ein Wort. Keine Sorge, ich buchte dich da drin nicht ein. Wer weiß, ob wir uns nicht die Köpfe einschlagen, wenn wir zu lange abhängen!« Grölend schiebt er die Hände in die Hüften. »Das dauert zwei Minuten und dann bist du schon wieder frei. Gönn mir das Gespräch, wir reden viel zu selten!«
Ich hab keine Antwort darauf, aber gehe trotzdem wortlos in sein Büro. Das Blau der Vitrine in seinem Rücken beleuchtet den Raum genug, dass kein anderes Licht nötig ist, als er drin ist. Trotzdem schaltet er eine Stehlampe mit einer Fernbedienung an und stellt sich hinter den Schreibtisch.
»Was ist los?«, frage ich sobald die Tür zu ist. Wir haben uns nichts zu sagen; Es gibt nichts anzufügen.
»Christian.« Er gießt sich ein Glas Scotch ein und lehnt sich gegen eine weiße Kommode, die unter dem Gewicht knarrt. »Es gibt schlechte Nachrichten.«
Ich gluckse kopfschüttelnd. »Ich fühl mich geehrt, davon zu erfahren, aber ich bezweifle, da was zu sagen zu können.«
»Wir hatten schon immer haufenweise Differenzen, das ist mir vollkommen klar. Aber wir sind eine Familie. Du bist mein Sohn! Und in den schweren Zeiten sollten wir zusammenhalten.«
Ich verziehe das Gesicht.
»Wir sind keine Familie. Und sind es noch nie gewesen.«
»Dann wird es eben Zeit, dass wir eine werden! Ich hab nicht mehr viele Wünsche übrig und ich will eben, dass wir's nochmal versuchen! Ich bin ein harter Brocken und holy shit, du auch!« Er deutet mit seinem Glas auf mich. Seine Hand zittert.
»Ich kann dir nicht folgen«, entgegne ich starr, aber wiederhole nochmal, was er gesagt hat, im Kopf, immer wieder, um daraus einen Sinn zu drehen. Es kommt keiner dabei raus.
Dad seufzt erneut und stellt sein Scotchglas beiseite.
»Ich war zwar schon immer ein bisschen durchgeknallt, aber wer hätte gedacht, dass es Gründe dafür gibt, dass dein alter Herr nicht mehr alle Tassen im Schrank hat?« Er atmet laut aus und tief wieder ein. Ich versuch's mir vorzustellen, aber es geht nicht. Nicht sein Ernst. Das kann nicht sein Ernst sein.
»Erzähl mir keine Scheiße«, sage ich leise, dabei hämmert es schon von allen Seiten auf mich ein. Er hat nichts. Er ist ein Arschloch. Und er hat sich selbst gemacht. »Ich meins ernst.«
»Ein Hirntumor«, redet Dad unbarmherzig weiter und sieht mich weiter an. Ich fühle nichts dabei, außer einem beklemmenden Krampfen in meiner Lunge. »Noch fang ich nicht an, jeden Tag das Gleiche zu erzählen und irre zu lachen, aber das Leben geht schnell.« Er schnippst kurz, das Gesicht verzerrt. »Schon ist es wieder vorbei. Sind wir auf dem gleichen Dampfer, Christian?«
Wir sind nicht auf dem gleichen Dampfer. Ich fahr nicht auf seinem scheiß Dampfer mit. Man. Er ist krank. Er ist abgedreht und scheiße, aber er ist krank.
Galle schießt mir den Hals hoch. Ich mustere ihn, auf der Suche nach irgendwas, dass es verrät. Aber alles ist gleich. Er ist genau der gleiche Typ, dessen Uhr ich vorhin nicht annehmen konnte. Dabei war's nur ein abgefucktes Geschenk.
»Scheiße.« Ich versuche nicht zu ersticken, nicht dem Druck hinter meinen Rippen nachzugeben. Er steht noch da, aber wie lang noch? »Wie … Wie lange weißt du's?«
»Ein paar Monate. Hab keine Garantie bekommen, wie lang das hier noch funktioniert.« Dad tippt gegen seine Schläfe. »Ein paar Monate? Ein Jahr? Es kann ruckzuck gehen.«
»Du hättest mich anrufen müssen«, sage ich leise. »Ich-«
»Sei doch dankbar! Ich wollte dich mit meiner Scheiße verschonen, wir haben schon genug Probleme!« Er kippt den restlichen Scotch runter. Seine Hände beben noch immer. »Wir sind ein heilloser Scheißhaufen!«
»Dad-«
»Und es wird Zeit, dass wir das in Ordnung bringen! Ich hab keine Zeit und keine Kraft mehr für die kleinen Machtspielchen, die wir uns liefern. Ich bin zu alt und bald zu tot für diese Scheiße!«, schneidet er dazwischen und sieht mich an. Das Blau seiner Augen ist ausdruckslos, immer noch das Gleiche wie meines. Er's noch der Gleiche wie vorher. Der gleiche Lügner meiner Kindheit.
»Was soll ich tun?« Ich kralle mich in meine Hosentaschen. »Sag mir, was du von mir willst und wieso du's mir gesagt hast?«
»Christian.« Dad senkt den Blick, räuspert sich nachdrücklich. »Ich hab dir dein Leben nicht immer leicht gemacht und war nicht immer ein guter Vater. Aber ich will, dass du glücklich bist. Glücklich bleibst. Die besten Entscheidungen für dein Leben triffst, du weißt schon, wie ich das meine. Ich kann das gefühlvolle Rumgeschwafel nicht, also zwing mich nicht, mit so einem Klamauck anfangen zu müssen«, sagt er. Ich schlucke, warte, will mich zurückgewinnen. Nur nicht den Kopf verlieren. Ich lass mir was einfallen, damit er nicht krepiert. Irgendwas.
»Ich möchte dich um etwas bitten. Dass du etwas für dich tust, was auch in deinem Interesse ist. Für mich«, setzt er an. Ich nicke, weil was soll's schon sein, was er verlangt? »Torina ist eine unglaubliche Frau. Du weißt, ich erkenne Potenzial sofort und sie hat es, so viel davon. Sie ist eine Bereicherung für dein Leben und das wissen wir beide.«
Ich schnaube unwillkürlich, kann gar nicht anders.
»Weil's jetzt wichtig ist.«
»Andere Probleme als das, was ich mir wünsche, wenn ich mal nicht mehr bin? Ich will, dass alles sauber hinterlassen wird. Das sind die verdammten Dinge, um die ich mir Sorgen mache!« Er mustert mich kurz. »Und ihr gehört zusammen. Du brauchst jemanden an deiner Seite, besonders, wenn ich nicht mehr bin um nachzuschauen, ob sie dir auch so gut zu Gesicht steht.« Scheinbar aufbauend kommt er zu mir und schlägt mir gegen die Schulter. Ich sag nichts, dabei gibt’s tausend Dinge, die noch raus müssen; Dass es keine Rolle spielt. Er wird sterben und kommt mir mit Tory? Er sorgt sich um mein Leben und nicht zum seins? Soll ich ihm das vorhalten – Ich kann ihm das nicht vorhalten. Nicht jetzt.
»Gute Dinge sollte man sich warmhalten. An sich binden. Torina braucht jemanden, der sie festhält, wenn's kalt wird. Du bist ein guter Junge, Christian. Ich weiß das.« Er zieht ein rotes Kästchen aus seiner Schublade und stellt es zwischen uns auf den Schreibtisch. »Und sie weiß es auch. Sie wird ja sagen, wenn du sie fragst.«
Ich muss die Augen zumachen, um das Ding nicht sehen zu müssen. Das kann er nicht abziehen. Kein Antrag. Ich mach Tory keinen Antrag.
Es ist, als hätte er mich mit der Nadelkeule in den Stuhl geprügelt.
»Dad.« Ich verstehe mich selbst nicht mehr und mach die Augen wieder auf, in meinem Mund ein metallisch scharfer Geschmack. »Wir … Mann. Wir sind erst … Zehn Monate, ich kann ihr keinen … Scheiß Antrag machen«, stoße ich hervor und sag nicht, was dazu gehört: Ich kann ihr keinen Antrag machen, weil es mit ihr nie das Gleiche ist. Ich wache nachts noch auf und sie liegt dicht an mich geschmiegt da, ihr Bein nach Halt suchend um meins geschlungen. Ich will mich immer befreien. Ich wache nachts noch auf und manchmal, vielleicht ein, zwei Sekunden, erwisch ich mich dabei, dass ich James seidige Wärme in meiner vermisse, seinen ruhigen Herzschlag unter meinem Ohr und seine Finger über meinen Rippen. Ich liebe sie nicht. Es reicht nicht.
»Du brauchst sie«, beharrt er. »Und sie braucht dich. Was meinst du, wie das mein Leben verändert hat zu heiraten? Ich bin endlich erwachsen geworden und hab verstanden, worum das Leben geht! Es wird Zeit, dass du verstehst, wo du stehen willst. Und an ihrer Seite ist dein Platz. Sie gehört zu uns allen. Ich will doch nur, dass wir alle wieder eine Familie werden und das ist die Chance!« Seine Stimme wird zum Ende fast flehend. Ich will immer noch verneinen, abwehren, das Kästchen zurückstecken. Aber es geht nicht: Ich krieg mich nicht dazu.
Also klapp ich's hoch. Drinnen sind die Eheringe, die Mom und Dad mal getragen haben. Ich presse die Augenlider aufeinander. Dad atmet laut aus, als hätte er gerade eine schwere Aufgabe hinter sich gebracht und ich kapier das schon: Er hat gewonnen. Er wird den ganzen Rest verlieren.
»Du wirst glücklich sein, Christian. Und genau das ist das Ziel!«
»Hoffen wir's«, sage ich leise. Als er mir nochmal gegen die Schulter schlägt, muss ich an mich halten, darunter nicht zusammen zu brechen.
Wir verlassen das Büro. Im Wohnzimmer sitzt inzwischen nur noch Neveah, die Dad empfängt, während ich wortlos den Raum verlasse.
Mein Kopf dröhnt. Eine Sekunde spiel ich mit der Idee, mich schon in den Wagen zu setzen, verwerfe sie aber, als ich die angelehnte Tür zu Dads Bibiliothek von mir sehe.
Der Boden im Inneren ist mit anthrazitfarbenem Teppich bezogen, Bücherreihen ziehen sich an den Wänden entlang. Dunkle Erinnerungen, wie ich im Low hier gehangen habe, keimen wieder in mir hoch. Es passt wieder. Ich werd Tory einen Antrag machen. Irgendwann heirate ich sie. James ist da. Ich kann ihn auf drei Meter Entfernung sehen, wo er gelangweilt durch ein Buch blättert und nicht mal hochsieht. Seine Hände zittern. Ich weiß nicht, was ich ihm heute angetan hab, aber was es auch ist, ich wünschte, ich hätt's nicht getan.
»Man.« Ich muss irgendwas sagen, auch wenn's zwecklos sein könnte. »Ich glaub, du wärst der Erste, der 'nen Buch aus der Bibliothek hier liest. Die ist sonst nur Deko.«
James ächzt leise. Als er aufsteht, knacken seine Knochen.
»Fuck. Kein Wunder, dass es hier so staubig ist. Hab mich schon gewundert.«
»Doch Klassikerfan?«
»Laber nicht«, sagt er und schiebt das Buch wieder ins Regal, ohne mich anzusehen. Ich kann nicht von ihm wegschauen. »Ist dein Dad fertig mit seinem Gespräch? Muss los.«
»James. Mann.« Ich krieg keinen Ton in meine Stimme, als er gehen will und ich ihn zurückhalte, die warme Haut unter seinem Pullovers brennt durch den Stoff. »Was hab ich … man, was hab ich jetzt gemacht? Diesmal?«
»Wer sagt, dass du was gemacht hast.« Er schüttelt meinen Arm ab. »Muss noch was machen und zu deinem Dad.«
»James-«
»Bis dann«, sagt James leise und lässt mich stehen. Mein Inneres schrumpelt zusammen.
»Er hat's dir gesagt, oder?«, rufe ich ihm hinter, als er schon an der Tür ist. Er hält inne, ohne sich umzudrehen, lehnt nur den Kopf an die Tür. Mein Mund ist voller Wasser. Macht Sinn. Dad hat's ihm gesagt. Er hat Panik und Schuldgefühle. »Dass er sterben wird, mein ich. Aber ich weiß es, ok? Er hat … Er hat's mir gesagt. Vorhin.« Ich presse die Hand auf meine Augen. Er wird sterben, Mann. Ich hab's verkackt mit ihm.
»Nicht … Nicht dein Ernst. Nich' dein Dad.« James' Stimme ist wieder dichter. Ich stoße ein hohles Lachen aus, damit ich nicht anfange zu heulen. Würd ich's nur nicht ernst meinen.
»Hirn … Hirntumor. Man. Ma-Man, er ist durch, aber das? Fuck, Mann, Gott, Scheiße ey, ich kann das nicht, i-ich kann ihn nich'mal leiden, er-«
»Christian … Mann. Komm schon. Is' ok. Ist schon ok«, sagt James dazwischen. Seine Stimme bebt, aber das ist es nicht. Er kennt nicht das Ausmaß. Ich kann's ihm nicht sagen. Dass ich Tory nicht heiraten will. Dass ich immer noch unzusammenhängend mitten am Tag Flashbacks davon habe, wie seine Finger an meinen lagen, ohne festzuhalten.
»Und ich mach … Noch T-Theater wegen 'ner scheiß U-Uhr, wow, ich bin … Abgefuckt«, stoße ich hervor, presse meine Daumen auf meine Augen. Man, ich sollte heulen, das ist zum Heulen, das-
»Du hast's nicht gewusst, ok? Komm schon. Nicht deine Schuld, konntest du nicht wissen.« James klatscht gegen mein Gesicht. »Wenn du jetzt flennst, mach ich dich kalt. Er ist ein scheiß Vater gewesen. Man. Er hat dich ausgelacht vorhin. Ist das geil? Stehst du drauf?«
»Scheiß drauf«, flüstere ich. »War super scheiße, es war nur 'ne Uhr und-«
»Das ist eine verdammt hässliche Uhr, da gibt’s ne Menge zu beschweren.« Sein Gesicht ist verzerrt, als wir uns ansehen. Ich kann seine scharf geschnittenen Gesichtszüge in dem schwachen Licht erkennen, die Ecken, die Kanten, der weiche Zug um seine Lippen. »Und es tut mir Leid. Scheiße, Mann. Tut mir leid.«
»Er stirbt, James. Da ist 'nen kack Tumor in seinem bescheuerten Schädel«, sage ich leise. Er flüstert »Tut mir leid, tut mir so leid« an meinem Ohr, als wir uns gegeneinander bewegen und ich in seine Wärme falle, meine Arme um seine Taille geschlungen und meine Hände auf seinem Rücken, wo ich die einzelnen Wirbel fühle. Der warme Geruch seiner Haut klebt an ihm und ich will weiter vergessen, vergessen, vergessen, wie das gewesen ist und sich anfühlt. Ich will in die Berührung seiner Hände auf meinen Schultern wachsen, seinen schnellen Atem an meinem Ohr, mein Gesicht an seiner Schulter, in die Sicherheit und Ruhe, die er mir für die Sekunden gibt, in denen wir so eng zusammenstehen, dass ich jeden Knochen und Muskel an seinem Körper spüre, eins mit seinem Geruch werden, der sich in meinen webt. Nur nicht loslassen, als der Drang zu Schluchzen nachlässt und Dad nur noch ein hartes Pochen unter meiner Haut wird. Nur nicht loslassen, weil jetzt loslassen für immer loslassen heißt. Ich kann das nicht. Nicht schon wieder.
Es ist viel zu lang her. Gott, ich hab ihn vermisst. Ich vermiss ihn immer noch, als er weiter »Tut mir leid« an meinem Ohr flüstert und wir uns ein Stück auseinander schieben. Ich will noch eine Sekunde. Eine noch, als ich meine Stirn gegen seine lehne, die Augen zumache und sein Gesicht festhalte. Es tut höllisch weh, als ich über seine raue Wange streichle, seine Finger in meinen Nacken gekrallt. Eine Sekunde. Eine nur. Nur noch eine. Und noch eine.
»Christian, Goott, bitte nich', nich-«
»Tutmirleidtutmirleidtutmirleidtutmirleid«, flüstere ich gegen seinen Atem, klammere mich noch an ihn. Dann lass ich lass. James bringt sofort zwei Schritte zwischen uns und ich steh da, meine Haut riecht noch nach unserer Umarmung. Och hab nach dem hingehaltenen Finger wieder die ganze Hand genommen.
»Du bist so … Goott, jedes … Jedes Mal«, presst James hervor. Er klatscht sich die Hände ins Gesicht, als wollte er sich die Haut herunterschälen. »Hör auf. H-Hör auf, mach das nicht schon wieder, ich-«
»Es tut mir leid, ich-«
»DANN LASS DIE SCHEISSE SEIN!« Er schubst mich nach hinten, als ich dichter herangehen will. Ich kapier das. Ich kapier das.
»Ich … Hätte das nicht tun sollen. Es tut mir leid, ich weiß, ich-«
»Warum … W-warum machst du das? Warum, wir sind nicht … Ich bin nicht dein … Wh-What the fuck«, redet er dazwischen und sagt doch nichts, krallt sich in seine Haare, zerrt und zerrt. Mein Herz drischt um sich. Ich will's in eines der Löcher stopfen, aus denen er blutet.
»JAMES, GOTTVERDAMMT!« Ich krieg seine Arme runter, doch er kriegt sich wieder los. Ich fasse nach ihm und-
Die Tür geht auf.
»Oh, halli hallo, ich hoffe, wir bereiten keine Unannehmlichkeiten? Tory wollte ein paar Büchlein ausleihen, aber wenn ihr erst alles zerlegen wollt, ist das natürlich kein Problem«, spottet Anthony. »Wobei eine Prügelei kurz nach einem Wiedertreffen lieber draußen stattfinden sollte?«
Ich lass die Arme fallen.
»Halt's Maul«, sage ich. James neben mir zuckt. In seinem Gesicht sind noch Abdrücke seiner Nägel. Das ist das Letzte, das ich sehe, bevor er einfach aus dem Raum geht.
Anthony sieht ihm nach, wendet sich dann aber an mich.
»Offensichtlich hat sich das Problem gerade erübrigt. Dann stören wir ja keinen mehr. Tory?« Er nickt vorwärts, doch sie schaut zu mir. Ich kann ihren Blick nicht erwidern. Fuck, Mann. Ich hab's versaut. Ich hab's schon wieder versaut.
»Christian, warte«, sagt sie leise, als ich an ihr vorbei in den Flur gehe. James ist schon weg.
Ich krieg keine Luft mehr, als ich mich an der weißen Kommode festklammere. Nur um nicht darauf einzuschlagen oder den Spiegel von der Wand zu reißen. Ich hab's gewusst. Und wieder in Kauf genommen.
»Hey.« Ich weiß nicht, woher sie kommt, aber plötzlich steht Tory da. »Guckst du mich an? Bitte. Guck mich an, Christian«, flüstert sie, doch ich kann den Kopf kaum heben. Wir müssen die Rede noch schreiben. Uns wieder sehen. Und wieder und wieder und wieder, wenn-
»Habt ihr euch gestritten?« Tory schiebt sich zwischen Kommode und meine Arme, sodass sie so dicht vor mir steht. Ich senke den Blick, um ihr nicht in die Augen schauen zu müssen.
»Scheiß drauf. Egal.«
»Er wird dir verzeihen.«
»Das ...« Ich ächze. In meiner Brust reißt etwas. »Kannst du nicht wissen.«
»Doch, ich weiß es. Du bist sein bester Freund, was sollte er sonst machen?«, fragt Tory leise. Ich gluckse freudlos, widerspreche aber nicht. Es macht keinen Unterschied mehr. Ich kann ihr die Wahrheit nicht sagen.
»Lass uns nach Hause fahren. Es war ein langer Tag«, schlägt sie versöhnlich vor. Ich nicke angestrengt, auch wenn meine Muskeln immer noch krampfen. Langsam löse ich mich von der Kommode, nur um dann die Arme um sie zu schlingen, die Sicherheit, die sie mir gibt, zu atmen.
»Zu lang«, flüstere ich gegen ihren Kopf. Sie streichelt langsam über meinen Rücken, ihre Nägel malen winzige Kreise auf meinen Rücken. Ich beuge mich runter zu ihr. Warme, schmerzhafte Dankbarkeit durchströmt mich stechend, als sie mich küsst, ihre weichen Lippen zärtlich gegen meine gedrückt. Ich komm langsam wieder zurück zu mir und damit ein bisschen zurück zu ihr. Das genügt, damit wir uns verabschieden können. Als sie draußen noch Dad umarmt, schiebe ich das rote Kästchen in eine Seitenlasche im Handschuhfach. Wir fahren zurück. Sie fragt nicht mehr und stellt am Radio herum, bis wir da sind.
Drinnen bleibt Tory am Wohnzimmereingang stehen, die Hände in den Hüfen. Ich gluckse.
»Muss ich mir Sorgen machen? Dieser … Blick.« Ich nicke auf ihr Gesicht. Sie kichert unschuldig, aber zieht mich zu ihrem Keyboard im Wohnzimmer. Sie lässt sich auf die Bank fallen, ohne loszulassen. Ihre Augen glitzern, auch wenn ein schwacher Rotschimmer in ihre Wangen kriecht.
»Setzt du dich zu mir? Ich will dir was zeigen.«
Ich starre sie eine Sekunde an. Mein Herz schlägt hart gegen meine Rippen, als ich's kapiere.
»Klar«, sage ich leise. »Klar setz ich mich zu dir.«
Langsam lasse ich mich auf das Stück freier Bank hinter ihr fallen. James geistert noch in meinem Kopf, pocht noch da wie eine offene Wunde, der ich mich nicht annähern kann.
»Los, zeig mir was.« Glucksend schlinge ich die Arme um ihre Hüften, ihr heftiger Herzschlag kommt bis nach hinten zu mir. Leise lachend drücke ich meine Nase an ihren Hals, woraufhin sie aufquietscht und sich zwischen meinen Armen kringelt. Ich kann nicht mal verhindern, dass ich aufweiche mit ihrem schmalen Körper zwischen meinen Armen und ihrem Kichern in meinen Ohren. Es fühlt sich gut an mit ihr: Leicht.
»Du bist so ein Blödmann.« Quietschend schiebt sie mein Gesicht weg, die Hitze ihres Körpers unbarmherzig in meine gegraben, als ich weiter gegen ihren Hals zu ihrem Kiefer küssen will und sie mich an der Stirn von sich weghält. »Ich wollte dir was vorspielen. Du lenkst ab.«
»Ich lenke ab, weil ich dich küssen will? Wow, ich bin ein schrecklicher Kerl«, ironisiere ich angestrengt und tauche unter ihrem Griff weg. Als ich meine Lippen dieses mal gegen ihre drücke, lächelt sie sogar. Ich auch. So funktioniert das. Ausblenden. Vergessen. Fallen lassen.
»Du bist wirklich schrecklich«, flüstert sie zwischen zwei Küssen und zieht den Kopf zurück. Ich gebe nach.
»Furchtbar.« Ich verstehe mich selber kaum, lehne mich dann aber weg, damit sie genug Platz hat. Bevor sie etwas sagen kann, nicke ich auf's Keyboard.
»Das Lied?«
Eine Sekunde ist es still. Sie zögert kurz, räuspert sich dann aber und dreht sich wieder richtig nach vorn, wo sie auf die Tasten sieht. Als sie vor drei Monaten eingezogen ist, war das ihre Bedingung: Ihr Keyboard. Sie will spielen, wenn sie möchte, egal, was ich mache. Sie will mir zeigen, wie es geht.
Meine Kehle wird eng bei der Erinnerung. Tory redet wieder.
»Ehm. Ich hab mir deine CDs im Auto angeguckt. Das ist .. Beeindruckend viel Bon Jovi«, setzt sie leise an und löst meine Finger um ihren Bauch, um sie mit ihren zu verschränken. Ich gluckse bitter in mich hinein, damit sie nichts mitkriegt. Nicht das. Bitte nicht.
»Hmn-mhn.«
»Die sind dauernd im Player«, setzt sie vorsichtig fort. Ich kann immer noch nichts sagen, ohne zu viel zu verraten oder zu sagen, dass die von James sind. Ausgeliehen und nie abgeholt. Scheiße. »Magst du Bed of Roses?«
Ich ächze doch unwillkürlich, auch wenn sie keine Ahnung hat, was sie mir da zwischen die Rippen rammt. Weil sie keine Ahnung hat. Man, woher soll sie's wissen? Sie kann's nicht wissen. Und ich bin scheiße und hör's auch noch dauernd. Fuck. Fuck, Mann.
»Christian?« Torys Stimme bebt. Ich versuche zu schlucken. Es geht nicht runter.
»Es … Es ist gut. Man. W-Wow, spiel's mir vor«, stoße ich hervor, alles in mir verkrampft sich zu einem großen Ball. Was für eine Ironie, dass sie's auch noch gut meint. Sie weiß es einfach nicht. »Komm. Ich will's hören.«
»Hab ich … Hab ich was falsch gemacht? Ich wollte nur-«, setzt sie an doch ich schüttle den Kopf und schiebe ihre Finger auf die Tasten, auch wenn es hart durch mich schlägt.
»Nein. Nein … Alles. Alles gut. Spielst du es für mich?«
»Christian-«
»Es ist mein Geburtstag«, beharre ich weiter und tippe langsam über ihre Ellenbogen bis hoch zu ihrem Oberarm und dann runter zu ihrer Taille. Sie zuckt einmal. Ein zweites Mal auf Brusthöhe und dann bei ihren Hüften, über die ich streichle, zu ihren Beinen, ihre weiche Haut hinterlässt einen heißen Film unter meinen Fingern, auf den ich mich konzentriere, Denken ausstelle. Es ist nur ein Lied. Nur ein Lied. Es bedeutet nichts.
»Du bist schrecklich.« Sie räuspert sich nochmal. Ich lege meinen Kopf in ihre Halsbeuge und presse die Augenlider aufeinander, atme, atme, atme. Dann fängt Tory an zu spielen.
Sie ist unglaublich. Und es tut höllisch weh, wofür sie nichts kann und weswegen ich es nicht zeigen kann, als sie uns durch die Töne wiegt, nervös und überdreht lacht, als sie sich verspielt und sich dann nicht wieder reingefummelt kriegt. Ich liebe Tory nicht. Aber Gott, es wär leichter, wäre es so. Dann würde ich nicht hier sitzen und mich fühlen, als würde ich aus zwanzig Löchern bluten.
»Tataaaa.« Dramatisch zieht Tory das Wort in die Länge und dreht sich ungelenk seitlich, sodass wir uns ansehen können. Ihre Wangen sind rot, aber sie strahlt. Mein Hals brennt und es tut weh, aber ich bin weich. Sie ist ein weicher Fleck auf mir.
»Wow«, flüstere ich, ihr Geklimper vibriert noch in meinen Ohren. »Wow, wow, wow. Das geht in die Geschichte ein.«
»Du bist blöd.« Kichernd kneift sie mir in die Nase. Ich gluckse.
»Du gehst in die Geschichte ein. Was für'n Geschenk. Ein Lied. Du bist … Wahnsinn«, rede ich weiter, weiche weiter auf, als sie noch roter wird und ihre Beine über meins schwingt. »Verdien ich dich? Ich verdien dich nicht. Meine Freundin spielt Klavier.«
»Keyboard«, verbessert sie peinlich berührt. Sie guckt kurz runter. »Also mochtest du es?«
»Es war toll.« Die Aussage klingt platt, aber ich hoffe, dass sie's versteht. Ich weiß das zu schätzen, auch wenn jede Sekunde von ihrem Klavierspiel noch auf meiner Haut brennt und Narben aufreißt, die nie ganz geschlossen gewesen sind. »Du warst toll.«
»Schleimer«, sagt sie leise, aber ich schüttle den Kopf, lache leise, als ich sie küsse. Sie atmet heftig aus, aber widerspricht nicht mehr, als ich »Pscht« gegen ihren Mund murmle und ihr meine Dankbarkeit so gut es geht auf die Lippen pflanze, mich daran erinnernd, wie gut das mit uns beiden ist. Wir funktionieren. Ich brenne nicht. Nichts tut weh. Aber man, ich liebe sie nicht, immer noch nicht. Auch wenn es sich danach anfühlt, als sie ihre Finger über meine Wange in meine Haare schiebt und sich dort festkrallt, sobald ich sie in meinen Schoß ziehe, umhüllt von ihrem Parfüm und der Hitze, die ihr weicher, nachgiebiger Körper an meinem verströmt.
»Gehört das mit zum Klavierprogramm und ich weiß noch nichts davon?«, wispert sie gegen meine Lippen, als wir uns kurz lösen und sie mit den Nägeln über meine Kopfhaut fährt. Ich atme laut gegen ihren Mund, sehe zu ihren Augen.
»Hab das Programm angepasst«, gestehe ich leise und lasse die Hände tiefer sinken über ihren winzigen Hintern zu ihren Oberschenkeln, die ich festhalte, die weiche Haut darunter pocht unter meinen Fingern durch die Wollstrumpfhose durch. »ich könnt' aufhören.«
»Du hast schon aufgehört, du Blödmann. Fang lieber wieder an«, zieht sie mich auf und ich lache heiser, küsse sie dann aber wieder hart, schalte aus, konzentriere mich nur auf die Kurven und Rundungen ihres Körpers, die unter meiner Hand schmelzen. Tory drückt sich mir entgegen, versteckt ihr Gesicht an meinem Kopf, als ich von ihren Lippen zu ihrem Hals küsse, die weiche empfindliche Haut koste, ein heißes, zügelloses Brennen unter meiner Haut, das aus mir herausbrechen will, als ich ihr den dünnen Schweißfilm wegküsse, sie ihre Fingernägel an meinem Genick festkrallt. Ich hab ihr Stechen im Nacken, ein scharfes, verlangendes Brennen in den Händen und will sie schnell aus ihren Klamotten schälen und mich in der Hitze ihres Körpers vergessen, aber halt mich zurück. Wir machen's langsam. D-as ist alles, was ich ihr heute Nacht geben kann. Zeit.
Ich stehe vorsichtig auf, als sie ihre Beine enger um meine Hüften schlingt, schiebe meine Finger über ihren Hintern, ihr Gewicht weicher Ballast auf mir und ihre Haare, die mir ins Gesicht fallen, als ihre Lippen wieder meine suchen, ihre Hände sanft an meinen Schultern, an denen sie sich festhält, als wir den Raum wechseln. Mein Herz schlägt laut in meinen Ohren, der wie leer gefegt ist, als ich sie auf's Bett setzen und meine Stirn gegen ihre lehne, die winzigen, verblassten Sommersprossen auf ihrer Nase zählen könnte. Ohne dass wir unseren Blick brechen schiebe ich meine Finger ihren Rücken hoch nach vorn, wir fummeln beide an den Knöpfen ihrer Bluse, ihr Atem schlägt mir schnell ins Gesicht, auf die Wange, als sie langsam winzige Küsse über meiner Wange und meiner Nase verteilt. Wir kriegen das Ding auf. Sie kichert leise, als ich es ihr von den Schultern schiebe und fässt nach meinem Pullover, den sie hochzerrt.
»Du siehst furchtbar aus.«
»Lass mich raten«, sage ich glucksend entgegen ihres schweren Atems und löse mich widerwillig von ihr, damit sie mir das Dinge vom Kopf zerren kann. »Dein Lippenstift?«
»Als ob ich ich zusammengeschlagen hätte«, kichert sie und ich lache unterdrückt mit, sehe an ihr herunter. Ich hab keine Worte dafür, wie heiß und sexy Tory aussieht, wenn sie mit zerzausten Haaren breitbeinig auf der Bettkante sitzt und ich ihr langsam den Rock von den Hüften ziehe, mitsamt der Strumpfhose. Der Stoff raschelt, sie klammert sich wieder an mich.
Tory will nicht so viel Zeit, wie ich ihr geben will; Ich bin dankbar dafür und vergess mich beim Sex mit ihr, alles, alles, alles.
Aber danach; Als ich die Decke über Torys nackten, zarten Körper ziehe, der roh und offen pocht, denk ich wieder dran, an seine Hände, seine Finger an meinen. Tory schlingt ihr Bein wieder um meines und ich drück mein Gesicht in ihre Haare. Ich will mich nur auf ihren Geruch konzentriert, kann aber nicht mehr vergessen, wie James und ich zugegriffen, aber nie festgehalten haben.
Bis zum Schluss nicht.

Mein Kaffee ist fast leer, als die Tür des Coffeeshops neben mir sich öffnet. Danny kommt heraus und schmeißt mir eine weiße Papptüte zu. Ich fang sie umständlich auf.
»So, Mr Naseweiß, jetzt will ich keine traurigen Gesichter mehr sehen. Ich hab gehört, wenn man das Croissant aufisst, wird’s die Woche nur noch schönes Wetter geben«, begrüßt er mich und ich schnaube, gehe aber hinterher, als wir zurück zum Auto laufen.
»Ich werd versuchen, es zu beherzigen.« Im Vorbeigehen schmeiß ich den Pappbecher in einen Mülleimer, bevor ich zur Fahrerseite gehe. Danny und ich sehen uns über das Autodach hinweg an. Er hebt die Augenbraue.
»Hab ich was falsch gemacht? Ich hab was falsch gemacht!«
Ich verdrehe die Augen.
»Wir hatten über einen Kaffee gesprochen. Wow, wir sind bei Croissant, zwei Kaffee und eineinhalb Stunden Dienstzeit gelandet«, entgegne ich angestrengt ruhig. Ich weiß, wieso ich sonst nicht mit Danny unterwegs bin, obwohl er der verantwortliche Agent ist. Wir schaffen nichts.
»Weißt du, wie anstrengend das ist? Wir führen ein Elterngespräch nach über einem Jahr. Ohne was zu essen, halte ich das nicht aus!«
Ich schnaube, gebe aber keine Antwort. Stattdessen schlüpfe ich in den Wagen und schmeiß das Croissant auf's Armaturenbrett. Danny lässt sich neben mich fallen. Eine Sekunde glaube ich, dass er schon wieder anfangen wird mit seinen Spielchen, aber dann räuspert er sich.
»Und, wie war's beim letzten Mal? Lass mich raten.« Danny macht eine dramatische Pause, in der er kaut. »Sie haben keine Ahnung, was mit ihm passiert ist.«
Ich schnaube ohne Amusement. »Sie haben keine Ahnung, was passiert ist. Oliver hat letztes Mal mit ihnen geredet, da haben sie ihm's schon gesagt.«
»Na das wollen wir mal sehen. Zeit macht ja bekanntlich nachdenklich und wir Eltern haben's schwer, wenn wir Fehler machen und nicht mal die Chance kriegen, sie nicht zugeben zu müssen. Man gerät in so einen unangenehmen Sog, sich zu fragen, was man falsch gemacht hat.«
Ich werfe ihm glucksend einen Seitenblick zu, wo Dannys dunkle Augen meine kreuzen. Obwohl er wohl so aussehen will, als ob die Sache ihm viel zu egal und viel zu abgeklärt ist, seh ich die Falten, die sich in sein gealtertes Gesicht geschlichen und vertieft haben. Sein dunkelbraunes Haar ist grau meliert, genauso wie der Oberlippen- und Kinnbart. Seit Oliver tot ist, ist eine Menge passiert.
»Das heißt im Klartext?«
»Im Klartext«, geräuschvoll knüllt er die inzwischen leere Papptüte und schmeißt sie im Vorbeigehen aus dem Fenster. »heißt das, das unsere zuckersüßen, braven Eltern auf jeden Fall Informationen haben, die sie zurückhalten. Wie gut, dass wir beide so vergebende, reizende Menschen sind und sie uns gerne eineinhalb Jahre später anhören.«
Ich nicke nur, um nicht zu sagen, dass ich sicher bin, nicht so wohlwollend damit zu sein; Nicholas Blackburn könnte längst tot sein. Wenn seine Eltern Informationen zurückgehalten haben, tragen sie Mitschuld daran.
Das Haus der Blackburns steht in einer Wohnsiedlung am Rande von Brooklyn, in dem alle Fassaden und Gärten gleich aussehen. Wir halten vor einem hellblau melierten Haus, bei dem zwei Autos in der Einfahrt stehen, eine unbenutzte und alte Schaukel steht im Garten.
Es sticht hart hinter meinen Rippen, aber ich lasse mir nichts anmerken, als wir aussteigen und Danny im Vorbeigehen seinen leeren Kaffeebecher in die Mülltonne der Blackburns wirft. Ich verdrehe genervt die Augen, doch er ignoriert es und kommt wieder neben mich.
»Heute überlass ich das mal dir, Sportsfreund. Die brauchen jemanden, der nicht so zimperlich mit ihnen ist, ich hab keine Zeit noch zwanzig Mal herzufahren.«
»Ich fühle mich geehrt«, ironisiere ich, doch Danny übergeht es einfach und klopft mir auf die Schulter.
»Und du kannst das schon. Hab gehört, du bist gut darin, ein paar Leuten was auf die Nase zu geben?«
»Ich bin hervorragend darin, ein paar Leuten was auf die Nase zu geben.«
»Sehr gut. Belassen wir's heute bei verbal und dann klappt das alles. Ich hab heut ausnahmsweise was gegen Fäuste in der Luft. Ab, Redford.« Er zieht die Hand wieder von meiner Schulter und nickt vorwärts. Ein heißes, unangenehmes Kribbeln steigt von meinem Genick bis in meinen Kopf, als ich klingle und es hinter der Tür rumoren höre.
Ms Blackburn öffnet.
Sie ist eine korpulente, mittelalte Frau mit dunklem Haar und hellen Augen. Ihre Haut ist durchscheinend und fleckig. Ich hab sie zuvor noch nie gesehen, aber so sehen Mütter wohl aus, die ihre Kinder verlieren.
»Ms Blackburn«, begrüße ich sie und halte meine Marke hoch. »Mein Name ist Christian Redford, ich bin vom FBI. Mein Kollege, Agent Thakery«, ich nicke in Richtung Danny. »und ich möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Es geht um Ihren Sohn Nicholas.«
»Nicholas?«, stößt sie hervor. Ihr Gesicht gewinnt eine Sekunde wieder an Leben und Farbe. »Haben Sie ihn gefunden?«
»Lassen Sie uns das drinnen klären«, entgegnet Danny und ruckt mit dem Kinn ins Innere. »Ist wirklich arschkalt hier draußen und Sie sollten sich hinsetzen.«
Ms Blackburn sieht uns noch eine Sekunde lang an, gibt dann aber nach und tritt zur Seite.
»Ich bin etwas verwirrt«, gesteht sie, als sie uns durch einen schmalen Flur in ein rechteckiges Wohnzimmer führt, wo – schätzungsweise – ihr Mann, den Blick von seinem Laptopbildschirm hebt. »Richard, das sind nochmal zwei Herren vom FBI.«
»Mr Blackburn, nehme ich an.« Wir drücken uns kurz die Hand. Aus dem Augenwinkel sehe ich Danny, der sich von Nicholas' Mutter auf einen Stuhl dirigieren lässt. »Es geht um Ihren Sohn. Wir haben neue Erkenntnisse.«
»Neue Erkenntnisse? Nach so viel Zeit?«, fragt er mit gepresster Stimme. »Hätten Sie die nicht schon letztes Jahr haben müssen?«
»Wär deutlich angenehmer gewesen, wenn wir sie letztes Jahr gehabt hätten«, schaltet Danny sich ruhig ein und schlägt die Beine übereinander. »Ich hätte letztes Jahr auch gern im Lotto gewonnen, aber daraus ist auch nichts geworden.«
»Was mein Kollege sagen will«, schneide ich dazwischen, bevor Danny noch mehr Kommentare ablässt und damit den Ärger von Nicholas' Eltern über mangelnde Spuren nur noch steigert. »ist, dass wir den Fall neu aufrollen. Wir haben vor Kurzem etwas gefunden.« Ich ziehe die Bilder aus dem Koffer, den Danny mit reingebracht hat und reiche sie rüber an Nicholas Eltern. Es ist das leere Grab und der Grabstein darauf zu sehen.
Ich kann ihnen kaum ins Gesicht schauen, als ihre Züge erschlaffen, rede aber weiter. »Wir liegen derzeit in der Annahme, dass Nicholas' Opfer eines Verbrechens wurde. Noch ist unklar, wo er sich befindet, aber wir sind sicher, dass das hier« Ich nicke auf das Bild in der Hand von Nicholas Mutter. »Nicht von ihm selbst ausgehoben wurde.«
»Was uns dazu bringt, nochmal wissen zu wollen, wie's denn so um unseren guten Nicholas stand«, schaltet Danny sich ein und steht von seinem Stuhl auf. Wir tauschen einen kurzen Seitenblick, wo er mir dankbar zunickt und dann weiterredet. »Wir brauchen nochmal alle Basicfacts. Wie sah's mit Ihnen und Nicholas aus? Was hatten Sie für eine Beziehung, kam er mit kleinen Wehwehchen zu Ihnen und hat Ihnen alles erzählt?«
»Ich verstehe das nicht«, flüstert Ms Blackburn und sieht langsam von dem Bild hoch. Rote Flecken haben sich auf ihren Wangen gebildet. »Das haben wir doch schon Ihrem Kollegen gesagt.«
»Mein Kollege hatte aber das Gefühl nicht alle Infos zu haben und deswegen sind wir wieder hier. Beantworten Sie einfach die Fragen, damit wir mit bestem Gewissen und besten Ergebnissen voranschreiten können«, antwortet Danny, die Stimme vollkommen ruhig. »Wie war Ihre Beziehung zu Ihrem Sohn?«
Ms Blackburn presst die Lippen aufeinander und senkt den Blick wieder. Mr Blackburn beginnt zu sprechen und gibt mir die Fotos rüber. Seine Hände beben.
»Wir hatten keine besonders enge Beziehung. Nicholas war ein … Ein Rebell.« Seine Stimme wird immer leiser, während er zwischen Danny und mir hin und hersieht. Ich nicke, damit er weiterredet. »Er hat oftmals viel Ärger gemacht und hatte auch Probleme in der Schule deswegen. Er hat oft geschwänzt oder ist früher gegangen. Wir sind nicht an ihn rangekommen.«
»Was ist mit Freunden?«, erkundige ich mich und gebe Danny wieder die Bilder rüber, der sie verstaut, bevor ich fortsetze. »Letztes Mal sagten Sie meinem Kollegen, er wäre mit Miles Helado befreundet gewesen. Gab es noch irgendjemanden?«
»Kellan Glendale«, sagt Mr Blackburn, das Gesicht verzerrt. »Nic und er waren zusammen, seit ungefähr einem Jahr.«
»Was ist mit diesem Kellan Glendale?«, frage ich weiter und lasse mir nicht anmerken, dass ich den Namen noch nie gehört habe; Und das schon beunruhigend genug ist, im Anbetracht der Tatsache, dass Oliver dieses Gespräch schon geführt hat. »Was wissen Sie über ihn?«
»Nic und er waren unzertrennlich. Sie haben alles zusammen gemacht.« Ms Blackburn wischt sich über die Augen. »Er war auch dabei, an dem Tag, an dem Nic verschwunden ist, dabei waren die beiden nicht mal verabredet.«
»Er war dabei?«, presse ich hervor. Mein Herz dröhnt viel zu laut in meinen Ohren. Die Worte wollen nicht in meinen Kopf passen. Kellan ist bisher unerwähnt geblieben; Dass er sogar aufgetaucht ist an dem Tag, an dem Nicholas verschwunden ist, ist es ebenfalls.
»Das will ich jetzt aber genauer wissen.« Danny dichter heran, das Gesicht eine glatte Maske, dabei puckern wir beide wie eine frische Schürfwunde. »Hab noch nie was von dem Kerlchen gehört.«
»Wir haben Ihrem Kollegen alles gesagt«, wiederholt Mr Blackburn, was seine Frau vorhin schon gesagt hat. Ich muss an mich halten, um kein bitteres Lachen auszustoßen. Oliver ist ohne neue Infos wiedergekommen ist. Angeblich ohne eine Spur. »Nic war mit Miles verabredet, aber er hat uns nicht gesagt, wo sie hingehen wollen, als wir gefragt haben. Er hat uns nicht vertraut.«
»Er war anders.« Ms Blackburns Stimme zittert. »Und es war seltsam, weil er von einem Auto abgeholt wurde, dabei hatte er keinen Führerschein, wissen Sie? Und Miles auch nicht. Sie konnten nicht mal fahren. Also … Also haben wir ihn gefragt.«
»Was war das für ein Auto?«, sage ich erstickt, versuche Ruhe in meiner Stimme zu halten. Sie schluchzt leise.
»Von eine Pharmakonzern, g-glaub ich. Weiß. Grün … Vielleicht w-war es b-blaue Schrift d-drauf? Er meinte, K-Kellan ist d-doch bei ihrem T-Treffen bei und a-arbeitet da, er-«
»Die Lathams«, sagt Danny tonlos. Nicholas' Mutter nickt abermals. Ich will mich wegdrehen, um ihr Gesicht nicht sehen zu müssen. Die Lathams. Scheiße. Verdammte Scheiße. Wir haben nichts gewusst; Keiner hat was gesagt. Es steht nirgendwo drin, in keiner Akte, nirgendwo vermerkt, dass er von einem Auto abgeholt wurde oder gar, dass er irgendwas mit einem Kellan Glendale zu tun hatte, der dort gearbeitet hat. Hätten wir das damals gewusst, würden wir hier nicht stehen. Vielleicht gäb's nicht mal das Grab oder die Möglichkeit, dass Nicholas tot ist.
»Sie sind weg-gefahren. Und das war das l-letzte Mal, dass wir ihn gesehen h-haben. Kurz danach kam I-Ihr Kollege zu uns und hat uns g-gesagt, dass sie Miles tot gefunden haben und dass nach N-Nic gesucht wird. Und jetzt haben sie sein Grab ausgehoben. O-O-Oh Gott.«
Ms Blackburn bricht ab und weint geräuschvoll. Ich kann keine Rücksicht darauf nehmen und nicke in Dannys Richtung.
»Wir reden mit Kellan.«
»Ich verstehe nicht«, antwortet Mr Blackburn für Danny. Heiße Wut schnürt mir die Kehle zu und ich will ihn anfahren, dass er bei seiner Scheiße bleiben und sein Kind betrauern soll, aber er redet weiter. »Kellan wurde ebenfalls als vermisst gemeldet und ist nicht mehr aufgetaucht.«
»Was?«
Ich reiße wieder den Blick zu ihm. Er erwidert ihn mit gerunzelter Stirn.
»Das sagte Ihr Kollege. Und Kellans Mutter hat ihn seitdem auch nicht mehr gesehen.«
»Sie waren also zu Dritt«, schließt Danny, ohne auf die Worte von Nicholas' Vater einzugehen. Ich nicke, hinter meiner Stirn pocht es, als wir uns zur Seite stellen. »Nicholas, Kellan und Miles.«
»Miles haben sie kurz nach Nicholas Verschwinden tot aufgefunden«, füge ich langsam an, rufe nochmal alles ab. Durch Miles' Tod sind wir überhaupt an den Fall gekommen. Er wurde mit einer russischen Importwaffe getötet, die eindeutig nicht auf amerikanischen Boden gehört und nur illegal ins Land gekommen sein kann. Wir haben ein paar Abgleichmodelle. »Nicholas ist immer noch verschwunden, genauso wie Kellan. Kellan arbeitet für die Lathams.«
»Und die sind schon 'ne Weile auf unserem Drogenradar. Scheiße«, flucht Danny und fährt sich über's Gesicht. Ich lache hohl auf, um irgendwie den Druck aus meiner Brust zu kriegen. Oliver hat's gewusst. Er hat's gewusst. Er hat nichts gesagt.
»Wir brauchen das Auto, mit dem sie gefahren sind«, sage ich leise. »Auch wenn da nach eineinhalb Jahren nicht viel zu holen sein wird.«
»Na, das werden wir doch sehen, was da zu holen ist. Das reicht zumindest erstmal, damit wir unsere liebe Tanya und ihren geliebten Maurice etwas nervös machen.« Danny schielt an mir vorbei zu Nicholas' Eltern. »Vielleicht machen sie ja einen Fehler und helfen uns ein bisschen aus?«
»Sie machen Fehler? Wow, das will ich erleben.« Ich gluckse ohne Amusement. »Ich ruf Val an, damit sie den Wagen auftreibt.«
»Ich beende das hier mal. Ich sag dir was.« Danny klopft mir mit bitterer Miene auf die Schulter. Ich spür das Vibrieren dabei, aber es kommt nicht richtig durch. »Entweder lügen die uns die Hucke voll oder uns hat jemand anders ordentlich was verheimlicht.«
Wir wissen beide, wen er mit jemand anders meint, als wir uns danach anschauen und das Gesicht synchron verziehen. Ich bin trotzdem dankbar, dass keiner von uns es laut ausspricht.
Das hätte ich heute nicht mehr verkraftet.


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