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 Betreff des Beitrags: Kapitel 03
BeitragVerfasst: Mo 31. Jul 2017, 17:12 
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Registriert: Di 30. Mai 2017, 07:06
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Ich spürte, dass sich etwas zwischen euch anbahnte. Überdeutlich und für jeden klar zu erkennen war es nicht, aber ich wusste, woher Blake kam. Kannte ihn deshalb auf eine Art, wie ihn wenige kennengelernt hatten, und dich, Sam, dich kannte ich auf die gleiche intensive, intime Art.

Ich wusste es sofort

Die Art, wie sich eure Blicke trafen.
Die Art, wie seine Lippen sich in ein besonderes, freches Lächeln brachen; die Art, wie er unangenehme, neckende Fragen stellte, nur um dich zu ärgern; nur, um dich ins Straucheln zu bringen.

Die Art, wie er dir Zigaretten zuschob, den Samstag am Strand, als du uns zum ersten Mal in Lytham St. Annes besuchtest, obwohl deine eigene Schachtel im Rucksack für jeden sichtbar vor dir steckte.

Du hast nicht einfach nur gelächelt, du hast gelacht und dich dabei geöffnet, vor meinen Augen zum ersten Mal jemandem, der nicht ich war. Das zu beobachten, tat einerseits gut und bestätigte meine leisen, stetigen Vorahnungen – versetzte mir aber einen Stich an jener Stelle des Herzens, die mir das erste Mal klar werdenließ, was es war, dass du mir tatsächlich bedeutetest.

Du warst in deinem Leben zu wenig aus Blackpool herausgekommen. Und du hättest das gebraucht. Dringender, als vielleicht ich damals. Dich aber so mit ihm zu sehen, mit Blake, überrumpelte dann trotz allem nicht. Zu sehen, wie ihr zueinander fandet, war tief in mir doch eher etwas, womit ich rechnete, denn ich sagte immer, dass es bei dir nur eine Frage des Umfelds, eine Frage der Menschen wäre, die dich umgaben.

Du überraschtest mich nicht.

Aber Blake tat es.

Blake war das ärmste Schwein, das ich kannte. Ich, das Kind aus der Mülltonne, darf das sagen und ich habe Gerüchte gehört, über seine Familie; über dass, was sein Vater ihm angetan hat, wie seine Mutter damit umging und was es mit Blake gemacht haben soll, lange bevor ich ihn tatsächlich kennenlernte.
Dass er trotzdessen so umgänglich war, immer, hat mich nie zu wundern aufgehört. Aber Blake verschmolz zu sehr in der Einsamkeit, wenn er alleine war, erzählte mir Brad eines Nachts, als ich Blake alleine auf dem Balkongeländer sitzen sah und Brad hatte recht, weiß ich heute, wie Brad einfach so oft von Anfang an die richtige Intuition hatte.
Deswegen war Blake präsent.

Bekannt.
Integriert, überall.
Überall ein bisschen dabei.

Damit die Dunkelheit der eigenen Gedanken ihn nicht verschluckte und das, was Vergangen war, ihn nicht mehr einholte.

Doch antastbar war er nie; nie ganz. Teile seiner Seele blieben immer verborgen und heute frage ich mich, ob überhaupt Logan alles wusste, oder ob es für Logan schlichtweg nie eine maßgebende, wichtige Rolle spielte.
Blakes Meinung, am Ende des Tages nichts zu sagen zu haben, nicht dahingehend, dass es wichtig genug war, erinnerte mich immer an dich und ihr wart euch darin so ähnlich, wie ihr euch in so vielen Dingen abstrus ähnelte.

Als ihr euch kennenlerntet, wollte Blake nichts in seinem Leben haben, an das man hätte festhalten müssen. Frauen und Beziehungen gehörten nicht zu den Dingen, über die er sich unterhielt oder Gedanken machte; Sex und ein verantwortungsvoller, ein respektabler Umgang damit war immer eine Sache, aber sonst?
Etwas Anderes?

Ein Mehr?

Ich hatte immer das Gefühl, dass Blake alleine strahlen musste.

Und dann kamst du, Sam.
Und du wurdest zu seiner Sonne.

Ich hätte dich trotzdem verloren. Dessen bin ich mir sicher. Egal, was ich zu unternehmen versucht hätte; egal, wie ich mich bemüht hätte, ich hätte dich immer verloren und der Gedanke, nicht gereicht zu haben, verletzt. Trotzdem bin ich Blake dafür dankbar, egal, wie es ausging; egal, wie es endete, dass er dich nahm und packte, wie es immer nur er durfte und dich länger in meinem Leben hielt.

Zumindest eine Weile länger.


*



Als der Frühsommer mit seinen heißen Temperaturen über Blackpool rollte, erinnerte nichts mehr im Leben Samantha Readons an jenes, dass sich ihr erst im Frühling noch unendlich und reich voller Chancen und Zukunftsmöglichkeiten aufgetan hatte. Mit dem Abflachen der Sturmwinde und dem sachten Wogen der Wellen, war Sams Optimismus zerschlagen und die Urne, die sie in ihrer einfachen Beschaffenheit an ihre Handinnenflächen schmiegte, nur ein Grund von zu vielen. Sie brachte es nicht über sich, das, was von ihrer Großmutter verblieben war, ins Meer zu schütten, ganz so, wie der letzte Wunsch es doch diktierte. Es war einfacher für Sam, das Gefäß in ihren Händen zu halten und auf ihrem Nachttisch abzustellen und anzustarren, über Stunden und Stunden und Stunden dem stummen Gespräch verfallen, in dem doch immer ein Vorwurf mitschwang.
Es war nicht fair.
Das hatte sie geweint, geschrien und geflüstert, bis es verstummt nur noch in den Gebilden ihrer eigenen Gedanken existierte und hohl in der Schwärze pochte, die sich immer weiter ausbreitete und nicht nur ihre Stunden, sondern ihre Tage vorgab. Es war unfair, dass sie Sam verließ und es war gemein. Etwas, das doch anderen Leuten passieren würde, nicht ihr, denn sie hatte ihre Last längst zu tragen. Sie hatte diese Scheiße durch und Sam war es egal, dass das dazugehörte zum Leben, das Kommen wie das Gehen. Denn wieviele sollten es denn noch werden, die gingen und Sam einfach so zurückließen, in etwas, dass sich anfühlte wie ein Scherbenhaufen, über den sie kriechen musste, um sich selbst wieder aufzusammeln?
Ihre Großmutter war eine harte, eine strenge Frau gewesen. Aber als die einzige Blutsfamilie, die ihr geblieben war, war sie Sams ganzes weltenbestimmendes Universum gewesen und Sam wusste, dass ihre Großmutter sie auch geliebt hatte – nur auf ihre eigene, gebrochene und geprägte Art. Und das war okay gewesen.
Immer.
Denn Sam verstand.
Sams Hand zitterte vor unterschwelligem Zorn als sie die Urne auf ihren neuen Nachtkasten stellte und als sie sich abwandte und in den Räumlichkeiten des Motels umsah, war es Leere, die ihr aus ihr heraus entgegenklaffte; nichts, dass mit Zuhause und Gemütlichkeit zu tun hatte. Ihr Grandma hatte sie als Alleinerbin eingesetzt, ohne damit zu rechnen, dass sie gehen würde, bevor Sam die Volljährigkeit beschreiten würde und nachdem sie ihre Großmutter gefunden hatte, eingeschlafen im Bett, hatte das weitere Probleme nach sich gezogen.
Einen gesetzlichen Vertreter, der in ihrem Namen verwaltete. Neue Pächter für das Bed’n’Breakfast in dem sie großgeworden war. Und jetzt ein Umzug, da es dort, wo sie aufgewachsen war, keinen Platz mehr für sie gab – nur noch Schule. Ein Abschluss, der nun wichtiger würde, denn je, obwohl sie vor Wochen doch bereit gewesen war, all das hinzuhängen, wenn das nur hieß, dass sie das, was ihr am meisten bedeutete, umsetzen und ausleben könnte.
Aber Sam hatte unterschätzt, was sie für diese alte, knorrige Frau, tatsächlich empfand. Und so, wie der Gedanke vor wenigen Wochen noch so befreiend lockte, dass sie bald Achtzehn wurde und sie sich dann emanzipieren, losreißen könnte, war dieser jetzt einer, der Sam Angst machte. Denn sie war alleine. Und sie wusste nicht, wohin ihr Weg sie führen würde. Konnte. Oder sollte.
Sam glitt mit ihren Schlappen über den frisch gereinigten Teppich, der sich so trist mit der alten Wandtapete fügte und nichts gemein hatte, mit der hölzernen Gemütlichkeit ihres alten Zimmers und schob die Gardinen beiseite, um das Fenster zu öffnen. Ein Zimmer mit Aussicht, darauf hatte sie bestanden. Es gab bessere, genauso günstigere Motels weiter im Kern der Stadt, abseits von Pier und Strand, doch Sam hätte es nicht ertragen, nicht mehr dem Strudel der Wellen und der tosenden Macht der Nacht zu lauschen. Dieses Wiegenlied ihrer Kindheit war nichts, das sie auch noch hätte aufgeben können.
Sam wusste, dass es sie gebrochen hätte.
Sie schloss ihre Augen, als ihr die Böe ins Gesicht schnellte, die rot waren von zu vielen Tränen und trüb von der Schlaflosigkeit, die sie durch die alptraumhafte Achterbahnfahrt ihrer Kindheit peitschte. Wie Sandpapier schoben ihre Lider sich über ihre Augen und Sam hätte gerieben, um sich Erleichterung zu verschaffen, käme da nicht schon wieder das vertraute, verräterische Nass, das zumindest diesen Schmerz linderte.
Sam schämte sich nicht, als die Tränen kamen. Aber sie schlang die Arme um ihr zu weites T-Shirt, als könnte sie das Bisschen, das von ihr blieb, damit zusammenhalten. Als könnte sie sich damit dem Wind stellen und dafür sorgen, dass er sie nicht abtrug, Körnchen für Körnchen, wie er das seit den Zeitaltern mit den Stränden dieser Welt tat.
Sie räusperte sich nicht und ließ sich von ihren Empfindungen hinfort tragen, denn es gab sie, die Reue, ihre Großmutter nicht besser gekannt zu haben, die Reue darüber, sich vielleicht zu wenig bemüht zu haben, aber da sie wusste, dass es nichts brachte, versuchte sich Sam zu sammeln.
Suchte nach den Melodien in sich, in den Gedanken, die ihrer Stimme Ausdruck verliehen und wollte sie in ihrer Kehle sammeln und sie ausstoßen, in einem Summen, das übergehen würde in dem wichtigsten Ausdruck, den Sam je besessen hatte.
Aber als sie versuchte zu singen, kam nichts.
Sam blieb stumm. Ganz gleich, wie sehr sie es versuchte.
Sie blieb einfach stumm.


*



„Komm schon, also irgendetwas musst du essen.“
Sam erwiderte seinen Blick und als sein Braun auf ihr Braun traf, sah Sam, dass es dieses Mal zwecklos war, diese Diskussion auf sich zu nehmen. Die gemeinsamen Monate hatten sie darauf sensibilisiert nicht nur darauf zu achten, sondern ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann sie eine Chance darauf hatte – und auch, wenn Sam es dieses Mal nicht gleichgültiger sein könnte, riss sie ihren Blick von ihm los und lächelte frostig zur ungeduldigen Bedienung. „Die Nummer Acht, bitte.“
Laut klappte sie die Karte zu und als sie ihn wieder ansah, legte sie die Karte provokativ vor ihm ab. Levi ging nicht darauf ein, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich und es trat so etwas wie Reue in diese dunkle Sonnenbräune, die sich in ihrer eigenen Blässe fremd anfühlte.
„Sam, es tut mir so leid. Ehrlich. Ich meine, fuck-„
„Was genau?“
„Sam…“
„Nein, mich interessiert das. Was genau tut dir so leid? Das meine Großmutter gestorben ist? Dass ich über Nacht alles verloren habe, was ich überhaupt noch auf irgendeine Art und Weise besessen habe? Oder dass du nicht gekommen bist? Dann, als ich wirklich mal einen beschissenen Freund gebra-„
„Hey, Sam, ich-„
„Nein!“, donnerte es aus ihr heraus und Sam schloss kurz die Augen, um das letzte bisschen Fassung zu wahren, das ihr hier gerade zu entwischen versuchte. Sie hatte sich vorgenommen, es zu verstehen; versucht, dass nicht nur vorzugeben, sondern es tatsächlich zu tun, aber jetzt, wo er vor ihr saß, so offensichtlich entspannt und erholt, wollte sie ihm seine Cola ins Gesicht schütten, hätte die Bedienung sie nur schon gebracht.
„Was willst du von mir?!“, brachte sie dann hervor und machte keinen Hehl mehr aus ihrer Wut, diesem Zorn, diesem Ungeheuer, dass ihre Brust zusammenschnürte. „Du warst nicht da, Levi! Was willst du!?“
Levi sank ihr gegenüber auf der Sitzbank des Diners zusammen und es war Betroffenheit in seinem Gesicht zu lesen. Schuldbewusstsein. Gut, brüllte etwas in Sam, sollte er sich bis an das Ende seiner Tage scheiße fühlen. Denn wo war er gewesen, als sie ihn gebraucht hatte? Sie hatte ihn wirklich gebraucht. Und als er nicht angerufen hatte, hatte sie versucht, ihn anzurufen. Erfolglos. Nicht einmal Blake hatte sie an das Telefon bekommen. In einem besonders schwarzen Moment, war die Verzweiflung so groß geworden, dass sie beinahe den Bus nach Lytham St. Annes genommen hätte, um ihn dort zu suchen und sich wieder ein stückweit zu finden. Doch Sam hatte es nicht getan und beschlossen, dass sie es satt hatte, immer alles als Letzte zu erfahren, egal was los war, und dass sie auch keine Lust mehr hatte, dafür Verständnis aufzubringen.
„Ich will deine Gründe nicht wissen“, schob sie dann kalt nach und lehnte sich zurück in das durchgesessene Polster alten Rotleders, und ließ ihre Augen auf der Suche nach der Bedienung wandern. In ihren Augenwinkeln sah sie aber, dass Levi nickte.
„Die Polizei kam nach Lytham. Es ging recht schnell, ich musste ein wenig abtauchen, zu Freunden. Ich habe gehört, dass sie auch schon öfters mit dir geredet haben, ich wollte es nicht riskie-„
„Ich will es nicht wissen, habe ich gesagt“, fauchte Sam und Levi verstummte und seinem Gesicht nach zu urteilen verstand er dieses Mal komplett.
Sam band sich ihre zu langen Haare in einen behelfsmäßigen Dutt und scherte sich nicht darum, wie sie aussah, denn das tat sie schon länger nicht mehr. Die Freiheit, sich endlich zu schminken und sich so zu kleiden, wie sie es insgeheim immer sehnsüchtig wollte, nahm sie sich nicht, jetzt, wo sie gegeben war. T-Shirts, Shorts und einfache Frisuren trug sie im Wechsel und ihre Augenringe trug sie mit jenem provokativen Zorn, den sie einfach nicht ablegen konnte, vielleicht auch nicht wollte. Sam hatte keine Lust mehr zu funktionieren, ganz so, als sei nichts gewesen.
„Was willst du, Levi?“, fragte sie dann ruhiger.
„Ich wollte dich sehen“, lächelte er zögerlich. „jetzt, wo ich volljährig bin und alles“, das Lächeln wollte breiter werden, aber als er sah, dass sie nicht lächelte, erstarb seine Regung und er kam auf den Punkt. „Ich habe mir Gedanken über die Band gemacht. Einen Plan“, präzisierte er. Und als Sam schwieg, fuhr er fort.
„Brad wäre mit an Bord, ganz so, wie ich es dir gesagt habe. Er ist ein sauguter Schlagzeuger und er arbeitet öfters hier in Blackpool. Das wäre schonmal ein örtlicher Vorteil, den wir dringend brauchen. Er hätte Bock auf ein Engagement und ist offen, zu sehen, wohin das alles so führen kann. Damit wären wir schonmal notwendig besetzt.“
Levi unterbrach sich selbst, als das Essen zu Tisch gebracht wurde und sobald der Teller auf dem Tisch ruhte und die Bedienung wieder verschwunden war, stürzte er sich über seinen Burger her. Sam starrte nur kurz auf ihre Pommes, die ihren eigenen Burger säumten, griff aber erst zu der Cola um davon einen Schluck zu nehmen. Sie antwortete nicht.
„Deine Basskenntnisse reichen aus. Für unseren Stil allemal. Umso besser, wenn es etwas schrammig ist, wenn man mich fragt“, sprach er mit vollem Mund und als Sam ihm einen Blick zuschoss, würgte er seinen Bissen hinunter und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Sam mochte Bradley. Die Gespräche, die sie an ihrem Wochenende in Lytham geführt hatten waren angenehm und ließen sich mühelos zurück in ihr Gedächtnis zitieren. Sam mochte, wie der blonde Löwe über Musik redete. Mochte, wie er alles mit dem gebührenden Ernst betrachtete und Menschen mit einer unverfälscht offenen Art gegenübertrat, die von Anfang an keinen Platz für Vorurteile ließ. Sam wog ihren Kopf leicht hin und her und versuchte, sich das Bild vorzustellen; das Bild von Levi, Bradley und ihr…
„Ich würde auch gerne Blake mit reinziehen.“
Sam spürte seinen scharfen, abwägenden Blick bei den Worten, die es durchaus schafften, sie aus dem Konstrukt einer Band zu holen, die vielversprechend aussah, und die Bilder in ihrem Gedächtnis verdrängten. Sam erinnerte sich augenblicklich an dunkles Haar und helle Augen und an den Klang seiner Stimme. Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht. Trotzdem lehnte Sam sich jetzt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust und senkte ihr Kinn.
Blake.
Sam wollte nicht hier sitzen und diese Unterhaltung mit Levi führen. Sie hatte sich dazu entschlossen, Levi aus ihrem Leben zu schubsen, weil es für sie im Moment besser so war. Sam verstand nicht viel über Trauer oder die Schwierigkeiten, die damit einhergingen; irgendwelche Einrichtungen hatte sie nie von innen gesehen und Therapiesitzungen waren immer noch etwas, dass man frustrierten Hausfrauen besser bestellter Männer anbot, nicht aber einem kleinen Mädchen, die über den Verlust der Mutter nicht hinwegkam. Sam wusste nur, was für sie funktionierte und Abstand war ein Schlüsselwort, von nahezu magischer Durchschlagkraft. Sie wusste, dass unter all ihrem Zorn und ihrer Trauer etwas vergraben war, das Herzschmerz war, weil Levi als die Ausnahme, die er geworden war, doch etwas Besonderes war.
Sam aber konnte sich nicht mehr in seine unstete Welt fallen lassen – und darin ebenso herumgeschubst werden, so, wie er es doch auch immer getan wurde. Und satt hatte. So satt. Warum war er sonst geflohen?
Sam suchte seinen Blick und es war nicht schwer, diesen zu finden, denn Levi wartete nur darauf, dass sie auf ihn reagierte. Sie wusste nicht, wie sie es ihm erklären sollte. Sam selbst rang in ihrem Kopf, ihrem Herzen nach Worten, um zu beschreiben, was es war, dass vor allem auch Blakes Name in ihr auslöste. Seine Bühnenpräsenz war längst in ihr Bewusstsein gerückt, denn es war schwer, etwas so eindrückliches zu vergessen. Seine Gitarre hatte sie durch den Rest des Abends begleitet und in ungeahnte euphorische Höhen getrieben und es war nicht schwer, sich daran zu erinnern, was er in ihr ausgelöst hatte.
Wie könnte sie je gemeinsam in einer Band mit Blake singen? Wie könnte sie sich in seine Nähe, in diese Kreativmacht begeben, wenn sie gerade dabei war ihr Leben, sich selbst und das, was kommen würde, irgendwann, irgendwie zu sortieren? Sie konnte nicht singen, wollte Sam ihm entgegenwerfen. Dass sie es probiert hätte, mehrmals, aber nichts kommen wollte, nicht mal ein kleiner Hauch. Und das sie wusste, warum. Dass sie blockierte. Das ihr Herz randvoll war und ihre Seele alleine.
„Ihr seid besser ohne mich dran“, sagte sie dann und Sam klang ernst, aber tonlos. Müde rieb sie sich die Schläfe und nahm einen erneuten Schluck von der Cola. Sie hatte zuvor schon wenig Hunger gehabt, doch jetzt war ihr der Appetit endgültig vergangen.
„Was meinst du damit?“, Levis Augenbrauen ruckten sofort zusammen. Er lehnte sich vor, zu ihr. „Sam, erzähl keine Scheiße. Es tut mir leid, okay? Darmkrebs im Endstadion ist scheiße und es ist scheiße, dass sie es dir erst so spät erzählt hat, aber… man, verstehst du denn nicht, dass ich mich auch für dich nicht gemeldet habe? Wenn ich das verkackt hätte, hätte ich…“, Levi raufte sich das Haar. „Ich könnte jetzt nicht hier sein, okay? Ich könnte jetzt nicht hier sein, um zu bleiben“, diese Worte betonte er besonders und er suchte Verständnis in ihren Augen, das wusste Sam.
Und Sam verstand trotz ihrer Verletztheit sehr. Aber wie sollte sie es ihm begreiflich machen? Dass es mit Blake etwas anderes war? Das Blake anders war, als Levi; dass auch sie anders war, als er? Blake brannte mit demselben Feuer, mit derselben Notwendigkeit, wie sie es einst getan hatte. Doch alles, was Sam momentan noch in sich hatte, waren kärgliche Funken und sie konnte es sich nicht leisten, sich von seinem Feuersturm tilgen zu lassen.
Diese Funken waren der Rest von etwas und sie brauchten Zeit. Sam wollte das nicht erklären.
Als sie „Sorry“ sagte, meinte sie es so. Aber es änderte nichts daran, dass sie sich aus der Bank schob und Levi mit einem letzten, finalen Blick bedachte. Ich kann das nicht, hätte sie ihm am liebsten gesagt, weil sie wusste, dass sie ihm diese Antwort schuldig war. Sie wollte es nicht. Sie würde sie aufhalten, alle, und sie konnte sich jetzt nicht in die Musik gießen und in Gefahr geraten, sich selbst zu verlieren.
Sam war alles, was ihr geblieben war. Daran hielt sie fest und deswegen blieb sie in diesem einen Moment stark, denn dieser war wichtig und alles, worauf es jetzt ankam.
Sam ging, ohne sich zu verabschieden und als sie in die brütende Hitze des Hochsommers hinaustrat, schob sie die Sonnenbrille von ihrem Haaransatz zurück auf die Nase und versuchte, ihre Schultern zu straffen.


*



Es war lange her, seitdem Sam sich derart eingehend im Spiegel betrachtet hatte. Während ihrer Kindheit gab es nur einen einzigen Spiegel und das war der größere Handspiegel ihrer Großmutter gewesen; ein schweres, wuchtiges Teil, mit dem sie ihre grauen Locken zurecht zupfte und Sam nur dann reinsehen ließ, wenn sie ihre Haare kämmte oder frisieren sollte. Eitelkeit war eine Todsünde, hatte Beatrice Readon immer betont und ihr erst später, in beiläufigen, aber schroffen Tonfall beteuert, dass sie weder Schminke, noch herausragende Frisuren benötigte.
Mittlerweile sah Sam, wieso.
Sie war schön. Nicht süß oder sexy, wie man andere Mädchen ihres Alters gerne klassifizierte, dazu war Sam zu scharfkantig; dazu konnte man ihr Leben und seine Prägungen zu deutlich in der Härte ihrer Gesichtswindungen lesen. Schmal, aber markant waren ihre Züge; ein automatisches, leichtes Lächeln etwas, das man bei ihr immer schmerzlich vermissen würde. Ihre Lippen waren klein und etwas voller, aber fern des idealisierten Schmollmundes, den man sich mit einer ausschweifenden Arroganz anmalte und kokettierte. Sams Lippen blieben in dem schmälernen, entschlossenen Grat und gingen über in eine Nase, die etwas länger, aber gerade und sanft geschwungen war. Ihre Augen, dunkelbraun und raubvogelscharf, voll realisierter, ungetrübter Klarheit und gekrönt wurden sie von dunklen Augenbrauen, die je nach Lichteinfall fast ebenso schwarz glänzten, wie ihr dunkelbraunes Haar, das ihr mittlerweile zu den Ellbogen reichte.
Es war Wildheit in ihr, sah Sam mittlerweile selbst; erkannte sich selbst immer dann in all den Nuancen, die sie zersplittert und wieder zusammengefügt hatten und hatte nicht nur gelernt, dass zu akzeptieren, als ihre eigene Person anzunehmen, sondern gelernt, sich so zu mögen. Das war sie.
Das war alles, was sie hatte und auf immer haben würde. Und sich heute in der spiegelnden Oberfläche zu betrachten, das erste Mal komplett geschminkt, mit Mascara, schwarzem Lidstrich und roten Lippen, Haaren, die sie aufwändig geföhnt hatte, gab Sam in ihrer eigenen Empfindung das Gefühl, schön zu sein.
Sam legte sich in einer Geste, die sich unsicher anfühlte, die gewellten Enden ihrer Haare über die Schulter und strich über das schwarze Kleid. Es war ihr Abschluss, hatte sie sich gesagt, als sie vor drei Tagen losgezogen war, um sich für die Zeremonie auszustatten; etwas, das man zelebrierte. Sam hatte ausreichende Gespräche mitbekommen, um zu wissen, dass sich alle bereits ihre rosafarbenen und türkisfarbenen Tüll- und Seidenwolken zugelegt hatten und sich überlegten, sich die Haare in einem Salon ordentlich legen zu lassen. Und obwohl Sam nie das Bedürfnis gehegt hatte, sich an irgendetwas anzuschließen, war es ihr wichtig, dass hier adäquat abzuschließen – sie wusste, dass es auch ihrer Großmutter wichtig gewesen wäre.
Sam versuchte ein Lächeln zu mimen, in der Schultoilette, die sie heute zum letzten Mal mit all ihren Schmierereien betreten würde, aber es fühlte sich falsch an. Als die Mundwinkel herabsanken und sie mit den dunklen Kohlen, die ihre Augen doch waren ein letztes Mal dem Spiegel entgegenstarrte, entschied Sam, dass es Dinge gab, die sich nicht ändern mussten.
Stunden später quälte sie die Schulband mit ihren grässlichen Trompeten und einem Chor, dem es an einem anständigen Sänger fehlte. Sam, die ihr Abschlusszeugnis gefaltet in eine Handtasche gestopft hatte, hatte den vorwurfsvollen Blick von Miss Denna, der Musiklehrerin, ignoriert, die Sams gezeigtes Talent in den Engagements des Unterrichts versucht hatte, in die Abschlusszeremonie einzubinden. Es tat ihr Leid, sich kurzfristig rausgenommen zu haben, denn Sam wusste, dass man mit Christina nicht den besten Ersatz gefunden hatte, aber Sam hatte keine Muse und auch keine Lust gehabt, sich zu erklären. Miss Denna war sanftmütig und engagiert; jemand, den sie viel früher in ihrem Leben vielleicht mal benötigt hätte, das wusste Sam, aber jetzt war der Gedanke abstrus, zu berichten, dass es ihr die Singstimme verschlagen hatte, weil sie wusste, dass sie sich nicht auf Ursachenforschung und Heilungswege begeben wollte. Nicht mit Miss Denna.
Sam kramte eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sich diese zwischen die Lippen. Die Blicke der vorbeiziehenden Eltern und Festgemeinden ignorierte sie; die Feierlichkeit auf dem Sportplatz löste sich längst auf und Sam war nicht die einzige, die durch das vor Hitze flirrende Gras mit ihren Highheels flanierte, um die Zeremonie hinter sich zu lassen.
Sie war frei. Und mit jedem Schritt, den sie tat, mit jedem Zug von der Zigarette, den Sam betätigte, atmete sie diese Freiheit ein und ließ die Altlasten hinaus in den kornblumenblauen Himmel steigen.
Ihre Augen suchten die Silhouette Levis, der ihr Heute versprochen hatte und Sam wusste, dass er es nicht versäumen würde, nicht nach dem letzten Aufeinandertreffen, das sie so einschlägig zerteilt hatte. Sam tat es nicht leid, aber Sam wusste, dass dies hier ihr Versuch werden würde, ihn in ein Leben zu binden, das weg von dem ging, dass sie sich erhofft hatten – und die Hoffnung, das es trotzdem noch reichen würde, war da. Im Herbst würde sie ihre Ausbildung im Hospital beginnen und auch das Motel hinter sich lassen, wenn sie in das zugehörige Wohnheim ziehen würde.
Sam wusste nicht, wohin ihr Weg sie führen würde, aber Sam wusste, dass es ein Anfang in eine stabile, eine solide Richtung war.
„Hey, Sam!“
Ein ehrliches Lächeln breitete sich auf Sams Lippen aus, als sie in der Ferne an den Tribünen des Sportplatzes Levi erkannte, der sich von dem Trubel des Ausganges ein wenig weggeschoben hatte. Er winkte und Sam konnte sogar auf die Entfernung sehen, dass er lächelte. Er trug eine Sonnenbrille. Und ein kurzes Hemd zu einer Anzughose, die viel zu kurz war und an jedem anderen blöd ausgesehen hätte, nicht aber an ihm, der seine Stiefel selbst im Hochsommer als klares Zeichen trug. Sams Lächeln kringelte sich zu einem verschmitzten Grinsen, als sie die Zigarette an den Mundwinkel führte.
Doch als Sam ihre Schritte beschleunigte um sich zu ihm und in die Schatten zu gesellen, verrutschte dieses Lächeln stetig. Denn Levi war nicht alleine gekommen.
Unmissverständlich klar ragte Brad neben ihm auf – größer, als die meisten Männer, die Sam kannte und er sah aus wie ein Riese neben Levi, der klein war. Er trug schwarz und hatte die Arme bequem vor der Brust verschränkt. Aber es war nicht Bradley, der letztlich alles aus ihrem Gesicht riss, sondern Blake, der sich ein wenig versetzt zu den anderen an die Bande des Fußballfeldes gelehnt hatte und die Hände halb in den Taschen seiner zerrissenen Jeans hängen ließ. Keine Sonnenbrille, keine Cap, nur ein weißes T-Shirt und ein abwartender, so deutlicher Blick in ihre Richtung, der alles verdunkelte, was an Strahlen noch in Sams Augen übrig geblieben war.
Ihre Kehle schnürte sich zu vor Verrat.
„Ist das dein Ernst?“, fuhr Sam Levi an, noch ehe sie die drei gänzlich erreicht hatte. Levi fuhr sich durch das Haar, kratzte sich kurz am Kopf, und alleine, dass er das tat, ließ Sam die Contenance verlieren. „Was tun die hier?“, funkelte sie ihn an, ohne Brad, noch Blake anzusehen. Sam war es egal, dass die beiden sie überdeutlich hören konnten, denn hier ging es nicht wirklich darum, ob Sam sie mochte, oder nicht, hier ging es um etwas anderes, wichtigeres und wenn sie die Männer damit verletzte, schiss sie drauf.
„Das sollte unser Tag werden! Du hast es versprochen!“, es könnte kindisch klingen, wenn dahinter nicht etwas folgenreicheres lag, das himmelweit nach Berechnung stank. Sam wollte Levi den Hals umdrehen.
„Chill, Sam“, versuchte Levi zu besänftigen, der sich mit der Zunge über die Unterlippe leckte. Er sah kurz zu Blake und zu Brad, aber Brad zuckte nur mit den Schultern und verdeutlichte damit, dass er da alleine durchmusste. Blake schwieg nur und sah Sam an. Gut. Sam wäre ihnen über den Mund gefahren, würden sie es wagen, sich hier einzumischen.
„Du hast sie absichtlich mitgebracht!“, schäumte Sam weiter. „Das du nicht einfach mal was akzeptieren kannst!“
„… warum“, brodelte nun auch Levi, „gibst du denn jedes Mal wegen dem kleinsten Scheiß auf?!“
Sam zuckte zurück und war versucht, ihre Hand zu heben und ihm eine Ohrfeige für das, was er sich da traute, zu verpassen. „Willst du mich verarschen?“, presste sie hervor. „Ich habe nicht einfach entschieden, dass ich lieber zu St. Annas anstatt zu Burger King gehe! Meine Großmutter ist gestorben! Ich muss irgendwie für mich selbst sorgen!“
„Warum soll die Band denn keine richtige Option sein? Warum ist sie für dich nur dieses kindische, abstruse Gedankenpalastkonstrukt? Als hättest du Spaß daran, Patienten zukünftig den Arsch abzuwischen, Sam!“
„Aber es ist was nützliches, es ist was Sicheres! Bei dir klingt das alles immer so leicht! Gründe eine Band. Singe. Werde berühmt. Hab für den Rest deines Lebens ausgesorgt. Bullshit! Bull-shit“, Sam würde sich ihre Entscheidung nicht madig reden lassen. Sam merkte, wie sich Tränen nach oben kämpften und dieses Mal scherte sie sich nicht darum. Zornige Tränen zu vergießen war gut; sie erinnerte sie daran, dass das hier real war, das es wichtig war und sie berührte. Die Leute, die sich zu ihrer Rechten in die Richtung des Ausgangs schoben, blickten unverhohlen zu ihnen, so sehr, dass Sam sie mit einem „Was gibt es denn da zu glotzen!?“, anblaffte.
Levi rang nach Luft, nach Worten.
„Sam, scheiße, was ist denn nur in dich gefahren?“, die Worte klangen einfach, nahezu simpel, aber die Sanftmütigkeit an ihm war verschwunden und das zu sehen, stachelte Sam weiter an, denn gut, sollte er endlich mal diese Engelsgeduld die kein Schwanz brauchte, endlich ablegen. „Ich… verflucht, was habe ich dir denn getan?!“, rief er jetzt aus und da klang Empörung mit, Verletztheit und auch sowas wie Unverständnis.
Sam schnickte ihre Zigarette weg, denn an Rauchen war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken.
„Lass mich einfach in Ruhe“, stieß sie dann hervor, „Lasst mich alle“, und jetzt deutete sie auch auf Bradley und auf Blake, der ihr mit steinernem Gesicht entgegenstarrte, „in Ruhe.“ Sam schulterte den Ledergurt ihrer Tasche und schoss Levi einen letzten Blick zu und sie wusste nicht, was es war, dass sie in ihre Augen legte, denn sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie verlor sich.
„Wenn du jetzt schon wieder gehst“, bebte Levis Brustkorb, „dann kannst du vergessen, dass ich dir nachlaufe. Nicht schon wieder. So läuft das einfach nicht. So laufen Freundschaften einfach nicht“, zwängte er zwischen Lippen hervor, die eng und schmal aufeinandergepresst waren. Doch in Sam gurgelte nur ein Lachen hoch, ein unschönes, höhnisches, das wusste sie selbst, doch jetzt auf Freundschaft zu pochen war nichts, dass sie ihm durchgehen ließ. Was für ein Freund war er schon gewesen für sie, die letzten Wochen und vor allem heute?
Dieser Tag hatte ihnen gehören sollen. Pompös essen gehen, wie die feinen Leute es taten, abends in irgendeiner Hütte Alkohol trinken, der kein Bier war und dann am Pier feiern zu gehen, bis der Morgen über dem Grau des Nachtmeer brach und alles in einen verschluckenden Schimmer aus Rot und Orange tauchte. Sie beide. Sie beide alleine. Sie hätte das für sich gebraucht. Levi so gebraucht. Geschissen auf die Band, warum versuchte er ihr das so aufzuzwängen, warum konnte er nicht akzeptieren, dass sie sich dafür nicht bereit fühlte? Er hatte es geschworen. Er hatte es ihr versprochen. Ein Tag so zu verbringen, wie normale Kids es taten, die gerade ihren Abschluss geschafft hatten. Gut geschafft hatten. Sie hatte sich dafür immerhin im Endspurt so sehr den Arsch aufgerissen.
„Du hast es versprochen“, war daher alles, was sie ihm entgegnete. Leiser, aber rein in all ihrer Emotionalität, die sie einhüllte, wie eine Wolke und wegtragen wollte, von diesem Desaster. Sie schenkte ihm einen letzten Blick. „Was weißt du schon von Freundschaft. Leck mich, Levi Delaney. Du kannst zur Hölle fahren. Was interessiert es mich.“
„Fein, dann geh doch! Verpiss dich! Was anderes kannst du ohnehin nicht!“, rief Levi ihr erbost nach, als Sam sich tatsächlich umdrehte und davon stapfte, mit den Absätzen ihrer hohen Schuhe Wunden in das Gras bohrte.
„Lass sie“, hörte sie Blake noch sagen und sie hörte, wie Brad auch irgendetwas brummte. „Sie ist zu unreif. Suchen wir uns jemand anderen.“
Sam schloss ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde und hätte am liebsten vor Frustration und vor Zorn geschrien und gerade, als sie meinte, dass sie sich im Griff hätte, drehte sie sich ein letztes Mal über ihre Schulter. „Fick dich, Blake! Was weißt du schon!“ Sam warf ihm den Mittelfinger entgegen, ehe sie sich unter einem geschnaubtem „Arschloch!“ endgültig umdrehte und dann ihr Kinn nach oben reckte und durchatmete. Versuchte, sich zu beruhigen. Das war es die Sache nicht wert.
Heute war ihr Tag, nichtsdestotrotz.
Sie hatte ihren Abschluss. Sie hatte ihn gut gemacht. Und sie hatte eine Jobaussicht. Das war mehr, als Levi von sich behaupten konnte und deswegen hatte er nicht nur kein Recht, über sie zu urteilten, sondern deswegen hatte er auch überhaupt gar keine Dimension davon, was das bedeutete.
Sie würde ihm nicht erlauben, ihr diesen Tag zu vermiesen.


*



Trotzdem schob sich Sam die Schuhe von den Füßen und kickte sie mit einem frustrierten Laut gegen die Wand, sobald sie das Motelzimmer erreicht hatte. Was für eine verdammte Farce! Das Lachen das ihr aus der Kehle entwich verhöhnte sich selbst für ihre Naivität geglaubt zu haben, dass irgendetwas tatsächlich mal so laufen könnte, wie sie es sich vorstellte, wünschte. Gedanklich Levi die gesamte Palette ihres beachtlichen Schimpfwortrepertoires heißend, raufte sie sich die Haare und stapfte zum Schrank, um sich dort ihre flachen Turnschuhe herauszusuchen. Wenn Levi nicht mitkam, würde sie sich schließlich nicht darum bemühen, einen Schein zu bewahren, der nicht existierte, und das halblange Kleid, in dem sie sich Stunden zuvor so weiblich empfunden hatte, wieder gegen kurze Shorts und Top eintauschen. Es war Hochsommer. Wer rannte schon freiwillig mit einem Kleid herum? Bitter bemitleidete Sam ehemalige Schulkolleginnen wie Rosie und Danielle, die in ihrem Satin schwitzen würden und gönnte es ihnen insgeheim boshaft, dass sie in ihrem eigenen Saft schmorten, während sie auf ihren Lammbraten warteten. Sams Vorstellung wurde gerade von Rosie dominiert, wie sie dasaß, und sich schal lächelnd Luft zufächerte, mit diesem groben, pompösen Ding, dass sie in dieser albernen Kordel um ihr Handgelenk geschlungen hatte, als es gegen ihre Zimmertüre klopfte. Ein hässlicher Ausdruck des Triumphes verzog Sams Lippen grimmig. Ruppig griff sie nach ihren Schuhen und knallte die Schranktüre zu.
„Verpiss dich! Ich will deine Visage nicht mehr sehen!“, giftete sie, tiefer verletzt, als sie es im Moment je zugeben würde, und ignorierte die Tür und den Schatten Levis, den sie in dem Fenster klar erkennen konnte. Sam schnappte sich ein Haargummi um ihre schöne Haarpracht wieder zweckmäßig zu verdecken, aber das Klopfen hörte nicht auf. Langsam. Wumm. Stetig. Wumm. Sam hatte nicht die Geduld für derlei Spielchen. Als es zum siebten Mal anklopfte, hielt Sam inne und ließ den Saum ihres Kleides los, den sie sich gerade hatte über den Kopf ziehen wollen.
Fluchend stampfte sie zur Türe und riss diese auf, sich innerlich schon wappnend, das, was da gerade auf dem Fußballfeld auseinandergegangen war, fortzuführen und zwar mit aller brachialer Wortgewalt, die in Sam brodelte. Doch es war nicht Levi, der vor ihr stand, wütend, aber reuig, sondern Blake und Blake, der jetzt eine Cap trug, starrte sie aus blauen Augen heraus ernst und kalt an.
„Oh Nein!“, Sam schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Das hier, das geht dich einen Scheiß an, okay?“ Sam entschloss sich dazu, sich das jetzt nicht zu geben und schlug die Tür zu, doch Blake ließ es nicht zu. Stattdessen schob er einen Fuß zwischen die Tür und den Rahmen und trat dann ein, bevor Sams Wangen sich im Zeichen klaren Protestes aufplusterten. Als Blake eintrat, schloss er die Türe und sperrte damit das geräuschvolle Treiben des Strandes und die Hitze des Tages aus.
„Du bist eine beschissene Freundin, weißt du das? Levi kann froh sein, dass er dich loshat.“
„Achso?“, Sams Augenbrauen ruckten nach oben und ihre Arme flogen automatisch in die Abwehrhaltung verschränkter Arme. Wenn er schon so anfing, konnte er sich gleich wieder verpissen. Wenn er meinte, dass der Versuch, ihr ein schlechtes Gewissen einreden zu wollen, etwas brachte, war er hier an der falschen Adresse. Scheiße, er war sogar in der falschen Stadt. „Als hättest du eine Ahnung von Levi oder mir“, wehrte sie ab. „Die Scheiße muss ich mir von jemandem der mich nicht kennt, nicht anhören, keine Sekunde. Hau ab.“
Aber Blake lehnte sich nur gegen die Türe und versperrte somit den einzigen Ein- und Ausgang und schränkte nun seinerseits die Arme vor der Brust. Er mimte sich ruhig, war es aber nicht, das sah sie an der Wildheit seiner Augen, die nicht verbergen konnten, was gerade in ihm kämpfte und das machte Sam nur noch zorniger, denn welches Recht meinte er zu haben, sich so darüber zu ereifern?
„Hau ab“, wiederholte sie. „Sonst werfe ich dich raus, das schwöre ich dir.“
Blake machte Sam keine Angst, wie er dastand, empfand ihn nicht als bedrohlich, aber es war trotzdem unmöglich, dass er hier, in ihrem Zimmer, das, was sie verlangte, nicht akzeptierte.
„Alles, wovon Levi, je gesprochen hat, war davon, dich hier rauszuholen“, ignorierte Blake sie weiter, dessen Augen einen kalten Ausdruck annahmen. „Davon, wie scheiße es dir bei deiner Großmutter geht, davon, dass deine Mutter dich dort sitzengelassen hat, um wahrscheinlich mit einem Kerl durchzubrennen und woanders eine Familie zu gründen-„
„Halt deinen Mund-„
„- davon, dass dein Umfeld dich fertig macht, dass alle auf Sam herumhacken, die keinen Vater hat, keine Mutter mehr, nur die alte Großmutter, die auch keinen Kerl hat und es damit der Tochter sicher eifrig vorgelebt hat.“
„Halt deinen Mund hab ich gesagt-„
„- davon, dass sie nichts geschenkt bekommen hat und sich alles erarbeitet, dass sie das macht, egal was andere sagen, oder von ihr denken, dass sie sich durchbeißt und das sie bereit ist, sich auch mal zu verteidig-„
„Halt deinen Mund!“, donnerte Sam jetzt, die es nicht mehr hören konnte, hören wollte, vor allem nicht von Blake. „Du meinst, du kennst mich, nur weil Levi seinen verdammten Mund nicht halten kann? Weil er dir erzählt hat, wie das Leben für mich gelaufen ist? Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber so läuft das nicht, nicht mit mir!“
„Du belastest Levi!“, schoss Blake jetzt zurück und die Worte trafen Sam verwirrt. Sie blinzelte ihn an und trat einen Schritt zurück, „Alles, was seine Welt bestimmt, ist, wie es dir geht, was du machst, dass er dir helfen will und helfen kann, das hat mit Fresse aufreißen überhaupt nichts zu tun, sondern etwas mit Freundschaft, mit gegenseitigem füreinander da sein, etwas, dass dir so fremd ist, wie die Idee, dass Levi sich einfach nur Sorgen macht und versucht, verdammte Welten für dich zu bewegen!“, Blake wurde lauter und mit dem anschwellen seiner Stimme, veränderte sie sich diese und verlor den warmen Klang, der Gespräche mit ihm so angenehm untermalt hatte.
„Darum habe ich nie gebeten!“ Irgendetwas an seiner Anklage ließ Sam nicht nur in Deckung, sondern in Verteidigung gehen. Was sollte der Scheiß? Wieso warf er ihr das vor? „Ich brauche keinen Retter und niemand, der wegen mir schlaflose Nächte hat, verdammt! Wieso ist das meine Schuld?“
„Weil du ihn wie ein Stück Scheiße behandelst.“
„Das stimmt doch überhaupt nicht!“, begehrte Sam nun auf, noch lauter, noch empörter.
„Ach Nein?“, Blake neigte seinen Kopf zur Seite und stieß sich jetzt von der Tür ab.
„Es ist mein Recht sauer zu sein!“, ließ sie sich nicht abbringen, denn wer war er, ihr das absprechen zu wollen? „Er… war nicht da okay? Er war nicht da und er hat mich alleine gelassen, als ich ihn am meisten gebraucht hätte! Und es ist nicht fair, es ist einfach nicht fair, mich mit der Scheiße“, Sam vollzog eine ausführende Geste die das Motelzimmer beschrieb, als wäre das alleine alles, was es zu wissen gäbe, „alleine zu lassen, wenn er mir versprochen hat dass er…“, Sam fuchtelte und rang nach Worten, „dass er bei mir ist und das er da ist und das ich Scheiße nicht mehr alleine durchmachen muss.“
„Meinst du, das mit der Polizei war eine faule Ausrede?“, gab auch Blake nicht klein bei.
„Dann hätten sie ihn eben erwischt!“, entwich es ihr, „Dann hätten sie ihn zwei Wochen ins System geworfen und dann wäre er volljährig geworden und-„
„Und wäre wieder frei gewesen?“
Sam stockte und atmete tief ein und aus. Sie verstand Blakes Blick nicht und hatte Schwierigkeiten zu lesen, was es war, das da in seinen Augen aufflammte. Als Blake lachte, war es freudlos und karg und Sam fühlte sich, als ohrfeigte er sie. Als Reaktion ruckte sie trotzig ihr Kinn hoch. Sie würde sich hier nicht auslachen lassen und wenn er meinte, dass sie zuließe, dass er sie erniedrigen würde, würde sie ihn eines Besseren belehren.
„Levi wäre weg gewesen. Hat er dir das nie erzählt?“
Es war nicht ganz eine Frage, aber Sam antwortete trotzdem. „Natürlich. Die Verbesserungsanstalt. Etwas dramatisch von ihm, warum sollten sie imm-„
„Levi“, unterbrach Blake sie schneidend, „hat eine Vorgeschichte mit Diebstählen und man hat seinen Arsch erwischt. Auch hier in Blackpool. Diese Pflegefamilie hier hat ihm klar gemacht, dass seine Anwesenheit eine Entweder-Oder-Sache ist. Levi hat sich für Oder entschieden und sie haben ihn angezeigt. Und nur, weil er volljährig ist, heißt das nicht, dass dieses Problem einfach so verschwindet. Aber er hat jetzt andere Verhandlungsspielräume. Hätten sie ihn davor erwischt, wäre er mindestens ein Jahr weg vom Fenster gewesen und sie hätten seinen Arsch einfach der Polizei überreicht, weil sie sein Vormund waren und er hätte sich nicht wehren können. Aber jetzt gibt es keine gesetzlichen Vertreter mehr und sie können ihn zwar anzeigen, aber nicht über ihn verfügen. Jetzt ist Levi selbst für sich verantwortlich. Und jetzt konnte er hingehen, zu ihnen, und was aushandeln, damit sie die Anzeige zurückziehen und das wusstest du nicht, nicht wahr? Weißt du auch warum?“
Sams Fingernägel hatten sich in die angespannte Haut ihrer Oberarme gekrallt, als die Worte in ihr Bewusstsein sanken und ihre Wirkung unmissverständlich entfalteten. Sams Lider waren gesenkt, aber sie sah Blake noch an, sah seine eigene, unnachgiebige Maske und sah, was es war, das er auf sie zwingen wollte und in diesem Moment hasste sie ihn dafür.
„Leck mich“, entgegnete sie, klang dabei aber nicht ganz so lahm oder entschleunigt, wie sie sich gerade fühlte. Kraftlos, ja, aber gereizt.
„Du hast ihn nie gefragt“, Blake kam langsam näher. „Oder? Nie. Er war einfach da, in deiner großen, bösen, traurigen Welt-„
„Lass das“, Sam schloss die Augen.
„- in der jeder schuld ist, nur nicht du selbst und er hat dich eingehüllt, mit seinen Versprechen, das er da ist, das er immer da ist, und es war einfach für dich und es war bequem für dich, weil es einfacher ist, in seinem Sumpf zu ersaufen, als sich um seine Mitmenschen aufrichtig zu kümmern und sich dafür zu interessieren, weil man ja in Gefahr einer Verantwortung geraten könnte.“
Das Klatschen durchzog die Stille des Zimmers wie das Grollen eines Donners, laut und allgegenwärtig. Blakes Gesicht flog zur Seite, als Sams Hand ihn traf, hart in seiner Impulsivität und genauso unverzeihlich. Sam selbst stockte der Atem, aber ihre Hand sank nur herunter und sie selbst machte keine Anstalten, das, was zwischen ihnen an Distanz noch da war, zu vergrößern. Sam war wie gelähmt und wusste, dass ihre Füße nicht funktioniert hätten, selbst wenn sie es wöllte. Das, was er sagte, nagte nicht nur an ihr, es brachte alles durcheinander. Er kannte sie nicht. Warum wusste er, wo er ansetzen musste? Warum berührte sie das, was er sagte, so sehr?
„Du bist feige“, flüsterte Blake ihr entgegen und mit diesen Worten, Sams Realisieren dessen, dass er Recht hatte, verstummte er und eine leere Stille kroch aus den Ecken des Zimmers, die sie in der Einsamkeit ihrer letzten Wochen immer besonders getroffen hatte. Könnte sie nur singen, hatte sie die verschlingende Dunkelheit beflüstert und stattdessen das Radio angemacht. Leise und blechern war es ihr Begleiter gewesen und hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Es fiel Sam schwer, Blake anzusehen, der nicht aussah, wie jemand, den man gerade geohrfeigt hatte. Aber sie tat es trotzdem. Sie konnte sich dem Blick nicht entziehen, aus dem die Kälte gewichen war und spürte, wie ihr Brustkorb bebte. Für einen kurzen, ohnmächtigen Moment fragte Sam sich beschämt, ob sie weinte, vielleicht schluchzte, aber dem war nicht so. Es war er, der das in ihr auslöste, wie er sich ihr langsam zubewegte, ihren Blick mit seinem festhielt und sie in den Abgrund stürzen könnte, wollte er es nur. Sam wollte ihn fragen, was es war, das sie verriet; was es war, dass es ihm so leicht machte, in ihre Brust zu greifen, und das Herz zu zerquetschen, bis es nichts mehr gab, das vor ihm verborgen blieb.
Als Blake ihr Gesicht in seine Hände nahm, löste die Berührung eine Sehnsucht in ihr, von der sie vorher nicht geahnt hatte, dass sie dagewesen war. Doch als sie spürte, wie seine Handflächen sich um ihre Haut legten, in dieser sanften, aber bestimmten Geste, realisierte Sam, dass es seit dem Moment in ihr darauf gewartet hatte, freigelassen zu werden, indem sie Blake auf der Bühne entdeckt; später kennengelernt hatte. Sam wollte etwas sagen, aber ihre Stimme versagte und ihr Mund fühlte sich trocken an.
„Nicht“, sagte Blake noch leiser und seine Stimme war dabei ein vertrauensvolles Wispern, das sie ihm nicht zusprechen wollte, aber verdammt, es war zwecklos, sich zu wehren und dagegen aufzubegehren. Er sah sie, begriff Sam und so unschön alles war, so charakterlos die Worte, in die er sie so verletzt verpackt hatte,… Blake sah sie. Und das veränderte alles.
Sam warf sich in seine Arme und küsste ihn mit einer ungekannten Notwendigkeit. Ihre Lippen brannten, als sie auf Blakes trafen und als Sam spürte, wie sich seine Lippen teilten und er das, was ihm entgegengebracht wurde auch erwiderte, rutschten ihr beinahe die Beine weg. Blake ließ von ihrem Gesicht ab und schlang seine Arme um ihren Körper und zog sie nicht nur an sich, sondern hielt sie und sofort schlug ihr das Parfüm in die Nase, mit dem sie bereits in Lytham selig in seinen Laken erwacht war – mit einem Gefühl der Geborgenheit, das sie tiefenentspannt hatte. Sam riss sich los von seinem Mund um seufzend Luft zu holen und spürte, wie er gegen ihre Mundwinkel lächelte. Als Sam ihn ansah, war sie nicht schüchtern. Als Sam ihn ansah, realisierte sie, was es war, dass sie wollte.
„Soll ich immer noch gehen?“, fragte er sie leise, seine Stimme so rau, dass die Intonation in ihrem Körper vibrierte. Ob er wusste, wie sexy er war, wenn er so sprach? Ob er wusste, was er damit mit ihr anstellte? Sam lehnte ihre Stirn an seine Lippen und legte ihre Hände, zitternd und um Fassung ringend, auf seinem Brustkorb ab und konnte unter dem Stoff sein eigenes Herz schlagen spüren, heftig und schnell, ebenso wild wie sie und es strafte seine vermeintliche Ruhe als jenes Brodeln, als welches sie es doch von Anfang an gesehen hatte.
Vielleicht sah Sam ihn auch.
„Nein“, flüsterte Sam zurück und nahm ihren Kopf hoch und sah ihn an, in das verschluckende Blau hinein, sein Halblächeln, das verführte. Sam wollte nicht, dass er ging. Sie wollte, dass er sie mit diesen Lippen küsste. Überall. Jeden freien Zentimeter ihrer Haut. Und sie wollte ihre Hände in seine Haare vergraben und wollte, dass sein Name alles war, woran sie noch denken konnte. Aber das war nichts, das Sam sagen konnte. Jedes weitere Wort wäre zuviel. Deswegen glitten Sams Hände hinab und umfassten den Saum ihres Kleides und zogen den Stoff über ihren Körper; ließen ihn achtlos zu Boden gleiten.
Sam war nackt. Geld, für kaschierende Unterwäsche hatte sie nicht investieren wollen – und es sich dann einfach gewagt, weil es am Ende des Tages doch egal war. So egal. Wer würde es denn sehen?
Blakes Augen glitten über ihren Körper und nahmen das, war vor ihm stand auf und malte ihren Körper in seinem Kopf, Sam sah das, mit jedem Wimpernschlag der Augenblicke, die er tätigte. Verlangen toste ihr entgegen, reine, ungebändigte Lust. Und als Blake sie in seine Arme zog Sam küsste ihn, als hätte sie ein Leben lang darauf gewartet und wahrscheinlich war das gar nicht so fern und so abstrus. Als sie an seinem T-Shirt herumnestelte und es ihm dann von seinem Körper riss, war es das letzte Mal, dass sein Mund sich auf diese Art von ihrem Körper loslöste.
Und dann gab es nichts mehr, dass sie sich noch zu sagen hatten – nur zu zeigen.


*



Nicht aufhören strömte es durch den weißen Fluss ihrer Gedanken, als Sams Lust sie kehlig aufseufzen ließ und als diese Intensität sie nach vorne wog, musste sie ihre Hände in Blakes Brustkorb krallen, um sich Halt zu verschaffen – denn Sam wollte nicht in seine Arme sinken, in die feste Umarmung starken Halts, während er weiter in sie eindrang; schmerzlich langsam, genussvoll auskostend und sie dabei so sinnlich küsste, dass Sam nicht hätte sagen können, was für den Verlust ihres Verstandes mehr verantwortlich wäre. Nicht aufhören war jetzt, was zählte, dieses Mantra, dass sie das Haar zurückwerfen und den Rücken durchstrecken ließ, ihre Brüste seinen Küssen hinreckend, während ihre Bewegungen sich ihrem Verlangen anpassten. Blake stöhnte, als ihr Schoß sich dringlich in den seinen grub und als sein Griff sich um ihr Gesäß verfestigte und seine Lider aufflatterten, konnte sie nicht anders, als sich auf die Lippen zu beißen. Denn das, was sie mit ihm tat verschleierte seine Augen und legte über sie diesen leidenschaftlichen Glanz. Es machte sie an, so sehr, dass bei ihm zu entfesseln, dass es für sie kein Halten mehr gab. Nicht danach.
„Nicht langsamer werden“, wisperte sie ihm entgegen, denn Sam war nicht schüchtern, „Tiefer“, leitete sie ihn an und schlang ihre Arme um seinen Hals, damit er sie besser zu fassen bekam und als er ihr leicht ihre Brustwarze anknabberte, lächelte Sam und ließ zu, dass sich dieser leise Schmerz in wohltuenden Wogen in ihrem Unterleib zentrierte. Blake küsste ihren Hals und Sam bettete ihre Stirn an seiner Schulter, um sich ihm anzubieten. Sam reckte sich ihm entgegen als die langsamen Stöße an Rhythmus zunahmen und drängte sich näher an ihn heran, um jeden weiteren Milimeter, der zwischen ihnen stand, in all seiner Unnötigkeit zu tilgen, denn Sam wollte das hier auskosten; sie wollte es nicht hart und überrumpelnd, wie sie auf dem Bett gelandet waren. Sie hatten Zeit, wusste sie; alle Zeit, die sie sich selbst zu geben bereit waren.
Das hier war nicht ihr erstes Mal. Es hatte diesen Moment gegeben, ganz kurz, dieses etwas unbeholfene aber klare Abwarten Blakes, um ihr die Zeit zu geben, innezuhalten oder etwas zu sagen, ganz gleich, wie seine Brust bebte, ganz gleich, dass sie längst an ihrem Körper gedrängt spüren konnte, was es war, dass sie bei ihm auslöste. Doch Sam hatte nur den Reisverschluss seiner Hose geöffnet und war vor ihm auf die Knie gegangen, ohne den Blickkontakt abzureißen, denn in diesem Moment hatte sie sich dazu entschlossen, dass sie das, was sich ihr anbot, genießen wollte; dass sie wollte, dass er das hier nicht vergaß, ganz egal, was es doch war, das sich hier gerade abspielte. Hier schälte sie nicht hektisch ihre Kleider vom Leib um sich mit Jake auf dem Heuboden seiner Familie in einem schnellen, lüsternen Akt präpubertierender Neugierde aneinander zu reiben. Hier lag etwas in der Luft und es war mehr, als nur Neugierde und gegenseitige Nettigkeiten. Sam wollte Blake, wie sie nie jemand anderen in ihrem Leben gewollt hatte und es war ihr scheißegal, wie kitschig das klang, denn die Art und Weise, wie er sie küsste, fühlte sich an, als flicke er ihre Seele an all den richtigen Stellen zusammen. Und Sam, die nie das Bewusstsein hatte, das je zu brauchen, fühlte sich nun haltlos in seinen Armen, beinahe verloren und war gierig nach mehr, überwältigt von der Sensation, wie sehr sie es tatsächlich brauchte, und wollte.
Sie leckte an seinem Ohrläppchen und ließ sein Keuchen ihre Anleitung sein, dass sich melodiös in ihren Blutstrom begab, und das Rauschen darin beeinflusste. Sam stöhnte, als Blake schneller wurde, versuchte, sich anzupassen, doch alles, was sie zu tun in der Lage war, war ihre Beine hinter seinem Rücken zu verschränken und ihn enger zu ziehen, noch enger, so eng, wie auch nur irgendwie möglich, denn sie spürte, wie das, was sich in ihr aufbaute, drohte, zu bersten und sie konnte sich weder dagegen wehren, noch-
„Lass dich fallen“, wisperte Blake in ihr Ohr, während seine Finger sich fester in ihre Haut schoben und sie dringlicher an sich heranzogen. Sam stöhnte laut auf, als sein nächster Stoß sie härter traf, als zuvor, stöhnte nochmals, als sie seine Ganzheit tiefer als zuvor in sich spürte und merkte, wie es etwas Animalisches ausbrechen wollte. Sam gurrte, wollte seinen Namen sagen, irgendetwas, doch Blake hielt sie fest in seinen Stößen, löste eine Hand nur, um sie in ihr dunkelbraunes Haar zu krallen und ihren Mund an den seinigen zu ziehen und als sie die Hitze des Kusses ereilte und seine eigene Losgelöstheit schmeckte, stöhnte Sam nochmals und merkte, wie ihre Sinne schwanden. Sam spürte seine eigene Beherrschung und spürte, wie sich die Muskulösität seines Körpers unter ihr zusammenzog und eine jede Faser darin die letzten Kräfte in den Rhythmus ihrer aufeinandertreffenden Körper konzentrierte.
Doch es war die Art, wie er ihren Namen aussprach; die Art, wie er ihn malte, als könnte er damit ihre Seele liebkosen, die Sam ihren eigenen Rhythmus wieder finden ließ, und als sie mit dieser Wucht aufeinanderprallten und Blake ihren Namen in die dichte Zerzaustheit ihrer Haare sprach, gab es kein Halten mehr.
Als Sam sich aufbäumte, tat sie das gemeinsam mit Blake und als die Schwärze des Orgasmus sie holen wollte, ließ sie sich davon voll und ganz in die Helligkeit ihres Zimmers hinforttragen, indem es nichts mehr anderes gab, das sonst bedeutete.
Als Sam am nächsten Tag zum Strand lief, tat sie das gemeinsam mit Blake, die Nacht noch in ihren Haaren und die Wärme Blakes zwischen ihren Beinen, als hätten sie sich gerade erst voneinander gelöst. Es war ein windiger Tag und die Straßen Blackpools leerer, als man es bei den Temperaturen annehmen könnte, vor allem jetzt, da die Schule vorbei war und es in die heißersehnte Sommerpause ging, die zu viele dringend nötig hatten. Sie schwiegen, den ganzen Weg vom Motel bis zum Strand hinab, schenkten sich nur Blicke, die die letzten Stunden als Geheimnisse verwahrten, aber auch als Etwas, das alles verändert hatte. Ihre Hände waren ineinander verschlungen, während sie beide mit der anderen Hand rauchten und etwas an dieser Geste war so entschlossen, so final, dass Sam am liebsten gefragt hätte, als was sie es zu deuten hatte – als was sie es deuten könnte. Denn das Bedürfnis, das zu tun, war da. Omnipräsent. Doch Blakes Blicke waren warm und die Entschlossenheit ist seinem Griff insgeheim doch aussagekräftig genug. Und das musste nicht nur genügen – sondern das würde es.
„Was sagst du Levi?“, fragte Blake sie, als sie die Stufen hinab zum Pier nahmen. Sam erwiderte seinen Blick nur kurz, ehe sie die Zigarette zwischen ihre Lippen fuhr und erneut daran zog, innig und genüsslich. Ihre Finger schlangen sich dabei ein wenig fester um die seinen. Sie wusste, was es war, dass er hier in Erfahrung zu bringen gedachte, doch ganz so sicher war Sam sich auch nicht. Nur ein Schritt war klar und das war der Erste.
„Ich werde mich entschuldigen“, schloss sie leise und sie wusste, dass das nicht optional war. Sie wusste, dass sie unfair gehandelt hatte und sie wusste, dass sie seine Anwesenheit immer einen Zacken zu selbstverständlich für sich selbst geschlossen und angenommen hatte. Das zuzugeben fiel Sam nicht schwer; das Gefühl, Levi nicht verdient zu haben, hatte sie schließlich nicht verlassen. Aber das seine Probleme so offenkundig klar dagewesen waren, so nah vor ihr und ihr doch stets fremd geblieben waren, schlicht, weil er sich nicht aufdrängen wollte und Sam nicht das Bewusstsein gezeigt hatte, um danach zu fragen, belastete sie. Zurecht. Kleinlich und lächerlich kam sie sich jetzt, Stunden nach ihrem Ausbruch vor und der Gedanke daran, dass Levi sich trotz seiner Schwierigkeiten vordergründig darum bemüht hatte, eine Zukunft zu kreieren, in der nicht nur er, sondern auch sie, sie beide, als Freunde und als Partner bestand hatte, war im Anbetracht ihres eigenen Egoismus unerträglich. Das musste sie klären. Das wollte sie klären. Daran führte absolut nichts vorbei, dessen war Sam sich klar.
„Und… ich werde singen“, sagte sie dann und jetzt war sie es, die ihren Kopf anhob und ihn ansah. Es war Überraschung in seinen Augen zu lesen, doch nur kurz, dann lächelte er und riss den Blickkontakt ab.
„Ich wusste es“; schloss er selbstzufrieden.
„Wusstest du nicht“, lachte Sam empört auf und knuffte ihn leicht die Seite. Doch obwohl Blake leicht lachend zur Seite schlenderte, fand er seinen Weg zurück zu ihr, löste seine Hand und legte einen Arm um ihre Schulter. Er zog Sam zu sich heran.
„Doch. Menschen wie wir haben keine andere Wahl. Nicht, wenn es um soetwas geht.“
„Menschen wie wir? Was für Menschen sind wir denn?“
„Künstler“, schloss er leise und als ihre Füße den Asphalt des Gehsteiges hinter sich ließen und in den weichen Sand traten, lachte Blake matt. „Das, was uns umtreibt, wird uns immer antreiben, egal, auf welche Art. Es wird immer zurückkommen. Das liegt in unserer Art, deswegen sind wir das, was wir sind. Und du wehrst dich so sehr dagegen und hättest die Ausbildung als Krankenschwester so gerne als die Lösung dessen und genau deshalb…“, schloss er, „ist es das, was am weitesten davon entfernt ist.“
„Und was ist die Lösung dann?“, Sam kam nicht umhin, ihre Lippen kurz süffisant zu kräuseln, aber die Wahrheit, die ihr aus Blakes Worten entgegenschlug, war zu überwältigend klar und fühlte sich zu echt an, griff dafür zu tief, als das sie sie leugnen oder von sich schieben könnte.
„Das, was dir am meisten Angst macht“, lächelte er dann.
„Hast du denn Angst?“, fragte sie mit einem Halblachen, denn es war schwer, es sich vorzustellen, das es ihm so erging und Sam beschwor das Bild des Abend vor sich, an dem sie ihn nicht nur kennengelernt, sondern auch zum ersten Mal gesehen hatte. Doch Blakes Antwort war deutlich und unverblümt.
„Jedes Mal“, gestand er. „Aber das macht es aus. Es ist alles, was ich kann.“
Sam kannte diese Unausweichlichkeit bei sich selbst. Oft genug hatte sie es verspürt, als sie sich gegen die Schläge und die vielen Verbote widersetzt und trotzdem gesungen, trotz dessen, immer und immer und immer wieder, bis sie in sich selbst den Gedanken verankert hätte, was es denn schon machte. Es war nur Singen. Das war das, was ihre Großmutter auch gesagt hatte – das es keinen Grund gab, zu trauern und zu kämpfen, denn es wäre nur Singen und es gäbe so vieles auf der Welt, anderes, wenig verlockenderes, als das. Doch wie falsch sie damit lag, spürte Sam jetzt, wo ihre Welt sich Stück für Stück in sich selbst zersetzt hatte, deutlich. Das, was übrig blieb, war wenig. Nur das Essentielle. Das, was sie auszeichnete und das, was Sam nicht bereit war gehenzulassen.
„Ich werde singen“, schloss Sam dann. Sie musste es tun, für Levi. Und sie würde es tun, für Bradley, aber auch für Blake. Und für einen jeden Einzelnen würde es eine Liebesbeweis sein und sie machte daraus keinen Hehl. Es war wichtig, dass sie wussten, worauf sie mit Levi zu setzen versucht hatten – und Sam war es wichtig, dass sie ihre Gewaltigkeit dahinter begriffen, denn nur so konnten sie gemeinsam in das Schlittern, das Levi beherzt vorbereitet hatte.
Und Sam gedachte nicht, ihn zu enttäuschen.
„Da sind sie“, nickte Sam, als sie die Umrisse Levis und Bradleys nur unweit von ihnen sah; wie sie sich in ihren Badehosen auf einem Strandtuch niedergelassen hatten und sich die Nässe des Wassers aus ihren Haaren strichen. Das angekündigte Gewitter war noch fern, auch wenn Sam es bereits in der Luft riechen konnte und alles, was es ankündigte, waren dichte Wolkengebilde, die sich an der Ferne des Firmaments auftaten und den azurblauen Himmel langsam immer mehr in ihrem Weiß bedeckten. Wenn es sie erreichen würde, würde die Gischt der Wellen wütend an den Pfeilern reißen und das Wüten des Meeres es schwer machen, über prasselnden Regen und lautem Donner auch nur ein Wort zu verstehen. Aber noch war etwas Zeit bis dahin.
Noch könnten sie genießen.
Noch hatten sie etwas aufzuholen.
Und Sam noch etwas zu beweisen.


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 Betreff des Beitrags:
Verfasst: Mo 31. Jul 2017, 17:12 


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