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 Betreff des Beitrags: Kapitel 06
BeitragVerfasst: Di 14. Nov 2017, 10:33 
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Die Zeiten, in denen du deinen Kopf auf meine Schulter bettetest und nach Minuten des Schweigen einfach erzähltest, waren längst gezählt, als die heftigen Sturmtosen des Herbstes die letzten Touristen aus Lytham fegten und das Gerippe einer erschöpften Stadt sich selbst und ihren Bewohnern überließen.

Du bist erst zu ihm gezogen, nachdem du mit Bradley geredet hast. Ich weiß, dass Blake das nie erfuhr; Bradley war dieser stillschweigende, allwissende Ansprechpartner immerhin nie nur für ihn oder für mich, sondern für so viele, wenn nicht gar für alle von uns. Aber ich weiß, wie sehr es Blake verletzt hätte, hätte er es je erfahren.

Es hat nicht gereicht, dass er dich fragte und manchmal frage ich mich, wieso es so war, dass Blakes Wort am Ende für dich nie reichte und du immer weiter und weiter nach jenen zusätzlichen Schutzmechanismen suchtest und angeltest, als würden sie mehr gewichten und als könnten sie dir mehr Zuversicht vermitteln, als er. Als gäbe es mehr, das zählte. Als könntest du dich ihm nie ganz öffnen; nie ganz so vertrauen, wie zu vertrauen wichtig gewesen wäre.

Ich bin mir sicher, dass dieses Verhalten rückblickend für dich Sinn ergeben hat. So viel Sinn, dass du darüber verbitterte Gedankenkonstrukte geschlagen und wieder eingerissen hast. Irgendwann hast du begonnen, beinahe gänzlich in deinem Kopf zu leben und hast dich damit in Gefilde begeben, in die zu folgen mir nicht mehr möglich war.

Aber einen Bruch hat es damals noch nicht gegeben – du warst zu glücklich darüber, deinen Namen mit ihm gemeinsam an dem Klingelschild anzubringen; die alte Badewanne als auch die deinige zu deklarieren, und das erste Mal auf diesem Balkon zu stehen und zu verstehen, dass das, was bisher nur Hort gewesen, jetzt auch Zuhause war. Dass es nicht nur okay war, sich fallen zu lassen, sondern dass du es unwiderruflich tun würdest und du dich darin einhüllen konntest, sobald dir danach war.

Der Bruch kam erst später. Danach. Dann, als du längst in Blakes Welt getaucht warst und sie erkundetest, weil du merktest, dass es nicht reicht, jemanden zu lieben und mit ihm zu schlafen und dass Menschen sich durch mehr, besonders in ihrer Alltäglichkeit offenbaren. Dass du den Finger auf den Bruch legen konntest, hat dich kaputt gemacht, dass weiß ich, aber ich weiß ebenso, dass dich die Fähigkeit, zu rekonstruieren und zu wissen, erdete. Und als du es mir erzähltest, in einem Moment, den ich längst verloren glaubte, wusste ich, dass dich Wundern und ewigliches Hinterfragen, dem letzten Sinn seiner Gedanken beraubt hätte, an den du dich damit festklammertest.

Ich habe mir immer gewünscht, Logan so verdammen zu können, wie du das tatest. Diese Entscheidung einfach zu fällen und Energien dort hineinzulegen, die einer tilgenden Feuersbrunst gleichen. Aber am Ende des Tages konnte ich es nicht derart final.

Blake war auch mein Freund.

Logan Teil einer Clique, die mir nicht nur viel bedeutet hat sondern auch viel für mich tat, als meine eigene Welt zusammenbrechen wollte. Sie haben sich gegen diese Wände gestemmt, und mich davor bewahrt und ich weiß, dass du das nie gerne gehört hättest, aber Sam – auch Logan war ein Teil dessen.

Ich weiß, dass es dich oft desillusionierte, was es war, dass uns alle mit Logan verband und ich weiß, dass du besonders Blakes Verbindung zu ihm wenig abgewinnen konntest und sie nur schwer, bis gar nicht, verstanden hast. Denn Logan versuchte alles, um Blake für sich zu gewinnen und er führte auf, wieso Fury scheitern würde, wieso du eine essentielle Rollen in diesem Scheitern spieltest und als du an diesem Tag Blake nicken sahst, mit einer Andacht, die nicht nur Verständnis, sondern tiefes Reflektieren über das, was man ihm sagte, ausdrückte, hast du ihn dafür gehasst. Logan auch – aber besonders Blake. Und es hat dich wütender und verletzter hinterlassen, als du es dir je ausgemalt hättest.

Als du Nachhause kamst an diesem einen Nachmittag, in die Dachgeschosswohnung, und du Logan bei Blake sitzen sahst und dich dazu entschiedest, diese Unterhaltung zwischen besten Freunden nicht zu stören, sondern abzuwarten, geschah dieser Bruch und ich habe ihn ebenso hinterfragt: wann er gekommen war und durch wen und ich erhielt meine Antwort erst durch dich und erst dann, als ich frustriert kapituliert und mich dazu entschlossen hatte, dass es doch in dem Chaos ohnehin keinen Unterschied mehr machte. Das passiert war, was passiert war und das keine Erkenntnis darüber es besser machte oder mildern konnte.

Es hätte kein Problem sein müssen, dieses Gespräch, denke ich mir oft. Es hätte Wege gegeben um das Gesagte zu verstehen und anzunehmen. Aber es wurde deshalb zu einem, weil es die wichtigsten Dinge in deinem Leben unterminierte.

Die Musik.

Und Blake.

Und diese Reihenfolge ist wichtig, nicht wahr, Sam? Das war sie immer. Denn sie ist bezeugend für alles.

Scheiße. Hätte ich es nur gewusst. Hätte ich es nur gewusst, Sam!

Und ich kriege diesen Vorwurf nicht los; er sitzt in meinen Knochen und hat sich in diese geätzt und auch durch mich hindurch. Er brennt immer noch, wie er an diesem Tag brannte, und es gibt nichts, aber absolut gar nichts, das den Schmerz, den ich verspüre, auch nur irgendwie neutralisiert. Es macht mich kaputt, weil ich wusste es nicht und ich werde es nie gewusst haben und wenn es irgendetwas ist, das mich eines Tages wahnsinnig macht, dann ist es das.

Ich wusste es nicht. Und du preschtest weiter in diese Phase, in der Rückzug das allerbeste gewesen wäre und hast ihn über diese eine, so signifikante Sache verloren.

Fuck.

Ich will die Zeit umdrehen, genau dahin; nur dort an diesen einen Punkt, wenn ich mich entscheiden müsste.



*



„Sam!“
Das ekstatische Rauschen ihres eigenen Namens schlug Sam beinahe mit ebensolcher Wucht entgegen, wie die kalten Winterböen, als sie die Türe des Hinterausgangs geöffnet hatten. Gerade dabei, den ausladenden schwarzen Schal enger um ihren Hals zu schlagen, sah Sam sie deswegen erst, als sie sie hörte – und „Sam!“ war nur eines der Worte, dass sie riefen. „Blake!“, „Brad!“, „Levi!“ oder „Fury!“, der Bandname, auf den sie sich feierlich geeinigt hatten, kam in inbrünstiger Zelebration aus ihren Mündern und Sam blinzelte, als sie versuchte, die Menge nicht nur näher in Augenschein zu nehmen, sondern auch zu zählen.
„Willst du mich verarschen? Dreiundzwanzig Leute?“, entwich es Levi, aber seine Lippen zuckten in einem anerkennendem Lächeln hoch und als er sich neben Sam den Kragen seiner mit geschwärztem Lammfell gefütterten Lederjacken hochschlug, grinste er, das sah Sam in den Augenwinkeln eindeutig.
Es war Blake, der sich als erster die wackelige und schiefe Feuertreppe hinunterschob und trotz der Vereisung und dem hohen Schnee auf den Treppen sichere Schritte in seinen Stiefeln nahm. Eine Gruppe junger Frauen löste sich aus der Menge und schob sich ihm freudestrahlend entgegen, als er in den kleinen Hinterhof trat und auch zwei junge Männer folgten ihnen, ein wenig schüchterner, aber am Ende doch genauso zielstrebig. Ihre Augen hafteten an Blake wie glühende Kohlen und Sam sah, wie durch das Fallen dichter Schneeflocken nicht nur Euphorie in ihren Augen aufblitzte, sondern auch Liebe. Blake hatte diese Wirkung, wusste Sam. Sie lächelte.
„Ihr Irren!“, sagte sie, als es sie selbst die Treppe hinunterschob. „Wie lange habt ihr hier denn gewartet? Es ist doch eiskalt!“, Sam gesellte sich zu den Wartenden, die sie freudestrahlend empfingen und Sam sah wildes Make-Up, hohe Schuhe, kurze Röcke, sich auftürmende Winterjacken und an den Männern wildes, dicht gegeltes und aufgestelltes Haar und sie sahen durchgefroren aus, wie sie da so warteten, unter dem schneeverhangenen Nachthimmel, aber strahlten vor Glück.
„Was wären wir für ein Fanclub, wenn nicht?“, ein zierliches Mädchen mit einer monströsen Mähne dicht springender, brauner Locken drängte sich vor und Sam sah, dass sie ähnlich gekleidet war, wie sie selbst – die Imitation Sams war deutlich und Sam erinnerte sich daran, sie schon öfters bei Auftritten gesehen zu haben. Sie wusste noch nicht so ganz, was es war, dass sie fühlte, aber sie wusste, dass sie sich geehrt fühlen sollte und es schmeichelte ihr.
„Fanclub, hmn?“, Bradleys Gestalt erschien hinter Sam und wusste, ein paar Extralächeln zu kassieren. „Wir wären eine beschissene Band, wenn wir euch nicht sagen würden, dass ihr euch für uns nicht den Tod holen solltet.“
„Ach ihr!“, das gelockte Mädchen strahlte, aber sie grinste dann auch kokettierend und schlug sich dann die Mähne über die Schulter. „Deswegen lieben wir euch so. Ist doch so, oder Leute?“ Ein Nicken rollte ebenso durch die Reihen, wie anerkennendes Murmeln und Sam wurde dabei warm ums Herz. Verlegen strich sie sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn und sah über ihre Schulter mit hochgezogenen Augenbrauen zu Bradley, der unter seinem Bart nur verheißungsvoll aber warm wie eh und je lächelte. Er zuckte mit den Schultern und da sah Sam es, dieses durchschimmernde Glück, das auch seine Brust erfüllte, egal wie ruhig, egal wie rational er sich mimte.
„Wir haben Geschenke für euch!“, schnalzte dann das Mädchen mit der Zunge und als Sams Kopf überrascht zu ihr schoss, nicht nur wegen dem, was sie gesagt hatte, sondern wie sie es gesagt hatte, erntete sie nur ein wissendes Grinsen, dass die kompletten Gesichtszüge erhellte. „Heute ist immerhin schon euer zwanzigster Auftritt, müsst ihr wissen und Fleiß muss belohnt werden.“
„Ihr habt gehört, dass wir den Gig in Manchester abgesahnt haben, oder?“, Levi grinste und sah kurz zu Blake hinüber, der von einem männlichen Fan gerade eine Wollmütze aufgesetzt und einen Kuss auf die Wange gesetzt bekam. Levi wartete die Bestätigung des Mädchens gar nicht ab, denn es war ausgeschlossen, dass sie es nicht wussten – zugegeben, sie wollten es zwar erst nach ihrem nächsten Gig verkünden, aber Gerüchte brodelten und kursierten und wenn man so engagiert und involviert war, dann konnte einem soetwas gar nicht entgehen. Oder? Aber das Mädchen gab keine Antwort preis, wog ihren Kopf nur leicht hin und her und das Lächeln blieb ebenso vage – und war damit Bestätigung genug. Hände reckten sich vor und mit seltsamer Faszination beobachtete Sam, wie dem Mädchen Tüten gereicht wurden; eine davon klein und mit einer großen Schleife verziert, die sich in ihren Enden schwer über die Tüte zog. Der Samtstoff schimmerte in der Dunkelheit schwarz und ein Kribbeln überkam Sam, als man ihr das mit den Worten „Für die beste Sängerin der Welt“, entgegenreichte und der junge Mann, der die Tüte überreicht hatte, traf Sams Silhouette ebenso fieberhaft wie bewundernd. Sam spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, aber mit betonter Vorsicht nahm sie es entgegen, gleichermaßen gerührt, wie schockiert. Es sah teuer aus. Und teure Geschenke hatte Sam noch nie bekommen.
Überhaupt konnte Sam sich nicht daran erinnern, jemals irgendetwas geschenkt bekommen zu haben, und diese Erkenntnis durchzuckte sie blitzartig und war genauso ernüchternd, wie beflügelnd. Ihr erstes Geschenk.
Sie war atemlos, erkannte sie. „Danke!“, hauchte sie, mit einer Begeisterung, die sie selbst erschütterte und als sie an dem Ende der Schleife zog, tat sie es mit der behutsamen Rücksicht, als behandele sie Glas. Mit beständig erkaltenden Händen zog sie eine weiße Schachtel heraus und erkannte eine Parfümverpackung. Sam erkannte, dass es nicht nur teuer gewesen sein musste, sondern tatsächlich war. „Du Verrückter!“, stieß sie mit einem Freudenquietschen aus und bevor der junge Mann sich versehen konnte, warf sich Sam in seine Arme, drückte ihn fest und übersäte seine eiskalten Wangen mit Küssen und hinterließ eine rote Spur an Begeisterung. Atemlos sah er sie an, als sie von ihm abließ, doch gerade, als er unter seinem dunklen Haarschöpf grinsen wollte, beugte Sam sich vor und stibitzte sich einen Kuss auf seine Lippen – und ließ ihn damit mit einer Schlagartigkeit erröten, die ein spitzbübisches Lächeln auf ihren Zügen befreite.
„Das hier“, eröffnete Sam, „wird für immer einen Ehrenplatz haben.“
Bradley hatte man unterdessen selbstgestrickte Handschuhe gereicht, sah Sam, und Bradleys Freude darüber war eine echte. Man habe gesehen, wie er sich immer die Finger rieb und gerade nach der Anstrengung an den Drums und mit den Sticks, bei dem kalten Wetter, naja, da dachte man… und Bradley konterte „Großartig gedacht. Vielen Dank“ und bevor das Mädchen wieder schüchtern, aber glücklich zurück zu den anderen fallen konnte, nahm auch er sie in seine Arme und als er das tat, schmiegte sie sich an seine Brust, die trainiert und breit und deswegen oft Faszination und Anziehung beim weiblichen Geschlecht auslöste.
Levi, mit seinen leeren Händen, wirkte etwas betreten, ganz so, als wisse er nicht, wohin mit sich selbst und was es war, dass er jetzt zu tun gedachte. Sam wusste, dass er nie eigene Ansprüche an Geschenke stellen würde aber sah auch, dass er sich trotzdem deutlich unwohl fühlte. Er rieb die Hände, die er in abgeschnittene Pennerhandschuhe gekleidet hatte und ließ sich von den Haaren, die ihm dabei in die Stirn fielen, nicht stören und gerade, als Levi versuchte, in fortwährender Geschäftigkeit einfach nach seinen Zigaretten zu kramen, immerhin war das immer eine gute Übergangshandlung, traten drei Mädchen hervor und gingen auf ihn zu – die Mittlere, eine Blonde, die Sam bereits des Öfteren gesehen zu haben vermutete, grinste ihn an, als begrüße sie einen alten Bekannten und tatsächlich vermeinte Sam in Levis Augen soetwas wie Wiedererkennen auffunkeln zu sehen. In ihren Händen trug sie eine aufwändige Torte, die von den Schneeflocken sachte berieselt wurde. Levis Augen weiteten sich.
„Für mich?“, hauchte er, als könne er es gar nicht fassen, aber die Rothaarige unter den Dreien grinste nur breit und nickte.
„Wir haben gehört, Pfirsichtorte ist dein Liebling und wir dachten uns…“
„… eine kleine Freude kann nicht schaden, hmn?“
„Woah, danke“, Levi rang nach Worten, kratzte sich sogar kurz unbeholfen am Hinterkopf. „Man, danke. Ich meine – wow.“
Sam wusste, dass ihm etwas Ähnliches durch den Kopf ging; etwas, dass sie schmerzlich an sich selbst erinnerte, nämlich dass sich noch nie jemand die Mühe und den Aufwand gemacht hatte, ihm etwas zu backen – nicht zu seinem Geburtstag und schon gar nicht einfach so, für Zwischendurch, dafür das er Rhythmusgitarre spielte und in einer Band; dafür, dass er einfach das einzige tat, das zu können er vorgab.
Später, als sie in dem kleinen, aber feinen Burgerrestaurant eigekehrt waren, durchfroren, übersät mit Geschenken, aber überglücklich, lachten sie immer noch über Levis Gesicht und über seinen verdatterten Ausdruck, als die Damen ihn eingekreist und jeweils mit Küssen auf die Wange übersät hatten. Zigaretten hatte man ihm noch geschenkt und ein metallenes Feuerzeug, in dem der Bandname eingraviert worden war und er sprudelte vor solch einer Euphorie, dass er sich nicht nehmen ließ, die Torte hier und jetzt, mit ihnen allen, zur Feier dieses Tages und dieses Abends, verspeisen zu wollen – und selbst der Koch, ein älterer Mann mit müdem Blick, schüttelte nur grinsend den Kopf und brachte ihnen dann vier kleine, separate Teller, ohne irgendein Wort des Verbots zu verlauten.
Doch diese brauchten sie nicht. Ausgelassen den Abend Revue passieren lassend, schoben sie die Torte in die Mitte und scharrten sich mit ihren Gabeln um diese herum, als wäre es ein wärmendes Lagerfeuer auf einer abgelegenen Fichtenlichtung und vielleicht war an diesem Abend die Liebe, die man in diesen Kuchen gesteckt hatte, genau das für sie, schloss Sam, die sich zwar an Bradley gelehnt hielt, aber ihre Beine mit denen Blakes festumschlungen hielt, in dieser wortlosen Geste, die doch mittlerweile ausreichte.
Das Battle of the Bands mochten sie zwar nicht gewonnen haben, aber es war der Kickstart für ihre Karriere gewesen, den sie gebraucht hatten und während Sam ein Stück Kuchen mit einem Schluck Bier hinunterspült und dabei einen angewiderten Blick Levis provoziert, der daraufhin verlauten lässt, dass sie nicht nur ekelhaft, sondern tausendprozentig keine waschechte Engländerin wäre, wenn sie nicht mal den Anstand für Tee besäße, lachte sie und sie grinste und sie strahlte – denn Sam befand sich endlich auf dem Pfad, den sie sich freigekämpft hatte.
Und das Beste daran war, das sie nicht alleine war. Nur das machte es lohnenswert.


*



Die Wohnung war in Stille gemantelt, ganz so, als würde sich die Leblosigkeit der Straßen auch um das kleine Dachgeschossreich wölben, dass heute in seinen Ritzen pfiff und den Winter unaufhaltsam in ihre vier Wände trieb. Sam versuchte, den Winden und dem Winter zu trotzen, die graue Wolldecke hatte sie eng um ihren Körper geschlungen. Mit derselben Sturheit hielt sie auch ihren Kopf erhobenen Hauptes in den leichten Tanz der Schneeflocken und ließ sich in ihrem Rauchen zwar dann und wann stören, aber keineswegs abhalten. Bevor sie noch eine Minute länger auf der Couch verbrachte, ließ sie sich lieber von dem kleinen Balkon wehen, entschied sie damit mit einer finalen Härte, die niemand untergraben könnte. Unter verschmiertem Kajal und verwischter Maskara verlor sich Sams Blick über den Dächern Lythams, dass in dem Schneefall wie sich verneigende Häupter vor ihr auftat, gebeugt unter der Last, als ächze die Stadt unter einer Macht, für die sie nicht gemacht war.
Tatsächlich war Lytham wie ausgestorben, seitdem der Winter seinen starken Einzug hielt und nur noch vereinzelte Geschäfte hielten sich in der Alltäglichkeit fest; der Rest würde erst wieder zum Frühling hin zurückkehren und sich dem saisonalen Ansturm der Sommermonate geschäftig stellen.
Sam fühlte sich in ihrem Alleinsein einsam, heute. Keine Schallplatte konnte die Düsternis ihrer Gedanken vertreiben und kein Buch sie ausreichend in die Welten ziehen, um Sam ihr Hier und Jetzt vergessen zu lassen. Es war ein Tag, der ihre Stimme fraß; ein Tag, der sie wieder zweifeln ließ, an allem und jeden, zuvorderst an sich selbst und sie wusste nicht, wie lange sie das – sich – noch ertragen mochte. Blake hätte ihr gesagt, dass sie sich in die Badewanne legen sollte. Er hätte ihr die Zigarette abgenommen und mit dieser sanften Bestimmtheit in die Richtung der ausladenden Wanne dirigiert, gegen die sie sich immer leise murrend zur Wehr setzte, aber doch nie von sich wies, da es insgeheim gut tat, wenn da jemand war, der sie an Tagen wie diesen leitete und auf die Art umsorgte, die sie in ihrer Kindheit vermisst hatte. Doch Blake war nicht da, immer noch nicht – und Sam verstand, dass darin ein Ursprungsquell ihrer miesen Laune lag, dem sie sich einfach nicht stellen wollte, weil sie daran nichts ändern konnte. Ihre Nase brannte, als Sam den Rauch durch ihre Nasenflügel schickte und unterdrückte das Seufzen einfach. Sie senkte den Kopf und genoss dabei die Wärme der wollenen Fasern, rieb ihre Wangen kurz daran, bevor sie den Filter erneut an ihre Lippen hob.
Blake war immer zu spät, in letzter Zeit.
Sam presste ihre Augen in Unwillen zusammen; versuchte dabei, den Klang der Stimme ihrer Großmutter heraufzubeschwören, als sie Sam gescholten hatte, weil sie zu spät gekommen war, schon wieder, um sich daran zu erinnern, wie sehr es sie gestört, sogar abgestoßen hatte, derart Rechenschaft ziehen zu müssen, nur weil sie nach dem Einkaufen die Straße am Strand genommen hatte und nicht den direkten Weg Nachhause eingeschlagen war. Sie würde nicht so sein, hämmerte sie in ihr Bewusstsein, während sie wieder an der Zigarette zog und gegen die leise Stimme ankämpfte, die sie schneidend daran erinnerte, dass sie dieses Versäumen schon recht viel Bandzeit gekostet hatte, die sie zum Proben brauchten. Nicht sie. Nicht sie.
Dass Sam krank war, machte es nicht besser. Seit einer Woche versuchte sie bereits gegen die lästige Grippe anzukämpfen, gegen Schnupfen, Husten und die Übelkeit, die sie immer über der Toilette einbrechen ließ, als hätte man ihre Innereien in Gift getränkt. Drei Proben waren dafür draufgegangen; drei Proben, die sie der Fertigstellung der letzten beiden Songs entfernte und sie von dem Feinschliff der anderen Sachen trennte und Sam kotzte es mehr an, als dass sie dafür Worte hätte.
„Gottverdammte Scheiße“, murrte Sam, als sie nur daran dachte, wieviel Arbeit auf sie zukam, wenn sie sich erst wieder auf den Beinen halten konnte; nicht mehr nur hauptsächlich im Takt ihrer Darmkrämpfe stöhnte, sondern wieder singen konnte, inbrünstig und im vollen Spektrum. Zumindest so, dass es ausreichend war; so, dass der Gig an Silvester nicht komplett an die Wand gefahren wurde. Fuck, er war immerhin so wichtig. So sehr.
Als Sam ungeduldig eine Haarsträhne aus dem Wind riss und hinter ihr Ohr zerrte, blies sie ein letztes Mal den Rauch aus und schüttelte die Decke auf der Schwelle des Balkons aus, ehe sie zurück hinein, in das verbliebene Bisschen der Wärme huschte, dass von dem morgendlichen Ofenfeuern übriggeblieben war.
„Wie geht es dir?“
Blakes Stimme ließ Sams Bewegungen einfrieren, als sie gerade in ihre kuscheligen Hausschuhe schlüpfte. Sie blickte verdattert auf. „Du bist schon zurück“, stellte sie rau fest und die Überraschung war echt.
„Eigentlich schon zu spät, nicht wahr?“, er zwinkerte ihr wissend zu, ehe er sich einen Blick auf die Wanduhr erlaubte. Sam sagte nichts, aber ihr Schweigen schien Anlass genug zu sein um hinzuzufügen: „Momentan ist einfach super viel los.“ Sam wusste, dass er sich damit entschuldigte, aber egal, wie sehr es in ihr aufkeimte, sich zu beschweren, die Umstände zu kritisieren – sie tat es nicht. Ihre vom Fieber gezeichneten Augen huschten über ihn, über die schwarzrote Flanelljacke, die ihre besten Tage bereits gesehen hatte, über die vor Staub stehende Jeans und den abgekämpften Ausdruck in seinem Gesicht. Und das Lächeln, das er trotzdem zustande brachte. Sam lächelte.
„Ich habe dich vermisst, das ist alles.“ Es war nur eine halbe Lüge, denn sie vermisste ihn tatsächlich öfters, als es ihr selbst gut tat, wenn er nicht da war, das wusste sie. Sie durchschritt den Raum in den wenigen Metern, die sie trennte, und schmiegte sich in seine Arme und genoss es, als er seine Arme um ihre Schultern schloss und ihr einen Kuss auf ihren Scheitel platzierte. Vielleicht eine wahre Liebeserklärung, wusste sie, immerhin hatte sie eine Dusche mindestens ebenso nötig, wie er das hatte. Als er sie gleichsam wieder aus der Umarmung schob, ließ Sam das protestlos zu. „Ich hätte nicht gedacht, das im Winter so viele Menschen umziehen, ehrlich“, murrte sie und Blake, der sich die Mütze vom Haupt zog und mit der Hand durch die schwarzen Haare strubbelte, lachte nur, erschöpft und darin selbst ungläubig. „Ich wünschte, du würdest mich die Kosten einfach übernehmen lassen, weißt du. Die Wohnung. Alles“, umschrieb sie mit einer müden Geste, als reiche das aus, um das zu bezeichnen, was es war, dass sie hier hatten und was es war, dass ihr Uns umfasste. Doch Blake schüttelte nur den Kopf und blieb damit so entschieden, wie er es seit Anfang an in der Diskussion um dieses Thema gewesen war.
„Aber mir ist es unangenehm. Ich könnte doch-„
„Sparen“, schlug Blake fröhlich, aber mit einem finalen Ton vor, der Sam die Arme in eine Verschränkung trieb.
„Warum können wir nicht normal darüber reden?“
„Tun wir doch.“
Sie schnaubte und er zwinkerte ihr auf die Art zu, die verhinderte, dass der Groll, der sich aufzubauen begann, intensivierte. Sie trat von dem einen Bein, auf das andere. „Aber-„
„Sam, ich komme klar, wirklich.“
„Aber ich möchte, dass wir klarkommen!“, sprach sie jetzt, jetzt auch deutlich lauter und Blake, der sich die Jacke vom Körper gepellt hatte, stützte sich mit seinen Händen auf der Stuhllehne des Küchentisches ab und blickte sie durch zwei verirrte Haarsträhnen hindurch an. „Wir“, betonte er sanft, „kommen klar.“
„Du schuftest dich kaputt in dieser Scheißkälte.“
„Die Umzüge bringen gutes Geld. Und ich bin mir nicht zu schade für sie. Was will ich denn nur Zuhause? Der Mensch braucht Arbeit; eine Aufgabe, eine Funktion. Ich kann nicht den ganzen Tag nichts tun.“
Sam wollte protestieren, wie sie das immer tun wollte, wenn er dieses Thema tatsächlich erweiterte. Sie wusste, dass sie gutes Geld einbrachten; sie wussten, dass neben Trinkgeldern manches Mal auch seltene Sachen absprangen, die man für gutes Geld verschachern konnte. Von der letzten Umzugsaktion hatte Blake ein altes Porzellanservice relativ hochpreisig an ein kleines Antiquariat verschachern können und damit hatten sie wieder ein bisschen mehr in ihr Equipment stecken können. Sie wusste auch, dass er sich nicht zu schade war, für irgendetwas und sie liebte ihn dafür, mochte, wie er mit beiden Beinen im Leben stand; mochte, wie arbeitsam er war.
Aber sie wollte ihn schütteln und anschreien dafür, dass er nicht das sah, was doch auf der Hand lag. Sie verstand nicht, wieso Fury für ihn kein Vollzeitgig sein konnte; verstand nicht, wieso er darin nicht das Potenzial dafür darin sah. Aber ansprechen wollte Sam es auch nicht. Zumindest nicht heute. Weil sie auch über sich selbst wusste, dass sie gerne zu sehr auf die Waagschale legte; deswegen vielleicht zu krass urteilte und mehr interpretierte, als eigentlich da war.
Sam hatte genügend Geld durch den Verkauf des Bed’n’Breakfasts erwirtschaftet, sodass sie sich gut über Wasser halten könnten, ohne dass sie arbeiten gehen mussten – sie könnten sogar ein wenig sparen; sie waren immerhin genügsam, brauchten nicht viel zum leben. Stattdessen splitteten sie die Miete und mal kaufte er ein, mal sie und Sam wurmte sein ablehnendes Verhalten, weil seine Arbeit Fury so viel kostete und es wurmte sie deshalb so sehr, weil das Geld eigentlich da war. Sie sollte es sparen, sagte er immer wieder und wieder und wieder und wieder. Und das tat sie. Sie wusste nur nicht wofür. Aber die Blicke, die sie austauschten, waren vielleicht bezeichnend und ausdrucksstark genug. Weil sie keine Ausbildung hatte. Alles auf Fury setzte. Und sich damit vielleicht auch in den Sand setzen könnte. Das Geld war nicht nur ihr Notnagel, sondern ihre Zukunft – und Blake? Blake kam klar. Auch ohne sie.
Sam wusste nicht, warum sie das immer so störte, obwohl es doch ihrer Beziehung eine Gesundheit vermachte, die es benötigte. Es war nicht gut, sich zu sehr voneinander abhängig zu machen, dass betonte auch Bradley oft; dass es zumindest anfangs wichtig war, seinen Weg in seinen eigenen Schritten und Tempo zu gehen, auf genau den Pfaden, die man als richtig erachtete. Wenn eine Partnerschaft das aushielt, dann war es etwas anderes, wenn man begann, gemeinsam, anzupassen. Aber nur so. Nicht anders.
Und es wurmte Sam, nicht mehr tun zu können, vielleicht auch festzustellen, dass sie diesen Punkt noch nicht erreicht hatten, obwohl alles an ihnen so intensiv in sie übergegangen war, sich zumindest hierin, in ihnen und in Blake, sicher zu sein.
„Hast du heute schon etwas gegessen?“, durchbrach Blake die Wirrungen ihrer Gedanken. Sam, deren Blick abgeschweift war, riss sich aus der Starre ihre umherschlagenden Kopfbilder und blinzelte zu ihm; sah, dass er sich mittlerweile hingekniet hatte und damit begann den Ofen neu mit Holz zu bestücken, in dem nur noch das Orange der Glut matt vor sich hinglomm.
Sam verneinte. „Die Suppe ist leer“, erklärte sie, als wäre das tatsächlich Aussage genug, aber Blakes langgezogenes Seufzen war Schelte genug, um sie kurz schuldbewusst die Schultern zucken zu lassen. „Ich liege den ganzen Tag auf der Couch, weil ich mich einfach nicht lange auf den Beinen halten kann. Da habe ich einfach keine Lust, mich ewig in die Küche zu stellen, Gemüse zu schneiden, und noch irgendwelche Markknochen auszukochen – oder ein Huhn auszunehmen.“ Sam klang gereizter, als sie es beabsichtigt hatte und als sie Blake damit nur ein herzhaftes Auflachen lockerte, schoss sie ihm einen finsteren Blick zu.
„Du tust ja gerade so, als müsstest du das arme Tier erst noch erjagen.“
Sam funkelte jetzt.
„Die Kippen tun deinem Kreislauf auch nicht gut“, fügte er jetzt amüsiert hinzu, als er sich wieder erhob und er ärgerte sie absichtlich, das sah sie, aber Sam hatte einfach nicht die Muse dazu und-
„Nein, lass mich runter“, protestierte sie, als sie merkte, dass Blake sie einfach an ihrer Hüfte umfasste und sie nicht nur hochhob, sondern regelrecht über seine Schulter legte. „Ich habe Magendarm, du unsensibler Arsch!“, schimpfte sie, aber das Amüsement war zu erfolgreich dabei, sich an ihrer Verärgerung hochzukämpfen. „Blake!“, Sams Wangen plusterten sich auf. „Ich kotz dich an, ich verspreche es dir!“
„Jaja“, entgegnete er versonnen und klopfte ihr stattdessen einfach auf den Hintern. „Wie gut, dass wir ohnehin ins Bad gehen, nicht?“
Wie selbstzufrieden er klang! Sam zappelte in seinen Armen, aber Blake lachte nur, auch dann, als sie sich ein wenig an seinem Rücken hochrappeln und ihn durch den Stoff seiner dicken Jeans in den eigenen Hintern zu zwicken versuchte.
„Vergiss es“, lachte Blake jetzt, „Das Teil steht vor Dreck. Aber wenn du nicht aufhörst, unartig zu sein, dann-„
„Hör auf alles in diesen versauten Kontext zu bringen!“, schimpfte Sam, aber mittlerweile lachte sie selbst, rau und schwach, aber die Finsternis war wie weggeblasen, wie sie immer verschwand, sobald er sich an den dunklen Rand ihrer Welt auftat und sich in seinen Strahlen in die hintersten Ecken ihres Selbst hervorbahnte; genauso unweigerlich, genauso natürlich, als müsste es genau so sein und nicht anders.
Als Sam das Wasser heiß über sich wogen ließ und der beruhigenden Duft von Lavendel tief auf sie einwirkte, war die Welt in dem Wissen, dass Blake nochmal einkaufen gegangen war, um einen Eintopf zu zaubern, nur für sie und ihre Genesung, nicht perfekt, aber besser. Dass sie mit ihm zu hart ins Gericht ging, war jetzt nicht nur Vermutung sondern etwas, dass sie als Tatsache beschied und sie fühlte sich ein wenig schlecht darüber, dass alles, was Blake tat, in dem ersten Funke ihrer Wahrnehmung nicht genug schien. Denn es war nicht nur genug, es war mehr und eigentlich hatte sie durchaus diese Hintergründe um das nicht nur zu wissen, sondern auch gleich zu fühlen. Zu verstehen.
Das schlechte Gewissen trieb sie tiefer in die Schaumberge und anstatt sich in der Länge der Wanne auszubreiten, zog sie ihre Beine nun näher an sich heran und umarmte ihre Knie, die ihr knöcherner vorkamen, als vor einer Woche noch. Sie aß zu wenig, wusste sie. Das Essen und sie, das war in letzter Zeit wieder zu oft zu einem Problem geworden und Sam verstand nicht, woher diese Probleme rührten, denn wer vergaß schon einfach zu essen, über mehrere Tage, wer nahm es einfach so gleichgültig hin, sich mit Essenresten oder vereinzelten Früchten über den Tag zu schieben? Blake sprach es nicht an, aber er steuerte dagegen. Es war nur eines der vielen Dinge, für die sie ihm dankbar war, so unendlich, denn das war etwas, dass sie sich selbst einfach nicht erklären konnte und darüber zu reden würde sie überfordern, das wusste sie.
Ein unangenehmes Stechen in ihrem Unterleib ließ Sam zusammenzucken und ein ungnädiges Zischen ausstoßen. Es wäre so typisch für ihr Timing, jetzt ihre Periode zu bekommen, jetzt, wo sich alles so ungnädig zusammenführte. Ihr Gesicht verzog sich im Schmerz des nächsten Krampfes und Sam führte vorsichtig eine Hand zwischen die Beine um zu sehen, ob es tatsächlich losging, aber als sie die Hand wieder hochzog war da nichts auf ihren nassen Fingern und auch nichts, dass sie sich in sanften Schwaden im Wasser ausbreiten sehen konnte, nachdem sie den Schaum sachte hinfortgeblasen hatte. Sam begann, sich zu entspannen. Dann ärgerten sich ihr Eingeweiden eben deshalb, weil Sam hungrig war und weil sie mit den lindernden Medikamenten kämpften. Trotzdem wäre es aber eigentlich an der Zeit. Oder?
Sie begann zu zählen, nachdem sie die Augen wieder schloss; zu rechnen und in den Tagen, den Wochen, den Monaten zurückzugehen… und dann riss Sam in einer alles zerschneidenden Erkenntnis die Augen auf. Sich dem eigenen Puls plötzlich in seinem Beschleunigen überdeutlich gewahr, war es, als könne sie ihr Herz gegen ihren Kehlkopf hämmern spüren. Oh Nein, flutete ihr Gedanken, in einer stets wiederkehrenden Kontinuität, die wie ein Gebetsmantra an die Wände ihres Kopfes, ihres Seins, ihrer Existenz hämmerte, und es war mehr, als Fassungslosigkeit, die diese Reizüberflutung anführte, sondern vielmehr der bloße und blanke Horror dessen, was sich gerade in bedeutungsschwangeren Worten in ihrem Kopf formen wollte, aber von Sam eingerissen wurde, wann immer sich die Buchstaben formierten, immer wieder, immer wieder.
Nein.
Nein.
Hände glitten von den Beinen und drifteten einer übergeordneten Intuition folgend zu ihrem Unterleib und legten sich nicht, sondern pressten sich gegen die dortige Haut, die so unklar unter ihr im Wasser glänzte, als wäre sie nicht real; als könnte sie es damit eindämmen. Dem Nichtsein verdammen - und als würde sie nicht versuchen ihn zu erahnen, diesen zweiten, so zarten Herzschlag. Sam war sich sicher, mittlerweile speien zu müssen, hätte sie nur etwas im Magen. Sie rang um Luft; bemühte sich um eine geordnete Atmung, um mehr Kontrolle dahinter, aber sie war von dem Punkt zu weit entfernt. Sam entglitt sich selbst. Und in dem Moment, an dem die Worte final ihr Bewusstsein zerschnitt, zersplittern die Sterne an ihrem Firmament.
Sie war über sieben Wochen drüber.


*



„Wenn er nochmal winken muss und du auch dann wieder nicht kommst, kommt er dich holen. Du weißt das.“ Sam legte ihre Unterarme über das Geländer und verlagerte ihr Gewicht von der einen Hüftseite, auf die andere. Nach vorne geneigt, konnte sie nicht anders, als zu grinsen, Levi gab sich immerhin Mühe, das musste man ihm lassen, entschied sie in Gedanken, während sie Bradleys Kommentar aber dennoch mit einem Schulterzucken abtat.
„Hast du dir das mal angesehen?“ Als Antwort zeigte sie Levi, der zu hüpfen begonnen hatte, um ihre Aufmerksamkeit unablässig auf sich zu ziehen, frohlockend, aber trotzdem deutlich den Vogel. Er plusterte empört die Backen auf, doch als das Hüpfen erstarb, übermannte ihn die tobende Masse der Menge wieder und er ging unter, in tanzenden Körpern, zuckenden Köpfen und dem lauthalsen Gegröle einer Fanbase, die hingebungsvoll war. Sams Blicke ruckten zur Bühne. Das grelle Zucken roter und blauer Lichter stach sich in die wogenden Menschenkörper, fern jedweden schrillen Rhythmus, den die E-Gitarren mindestens ebenso bestimmten, wie die dröhnenden Basseinlagen, die von dem Rauschen der Drums begleitet wurde. Es war Punk, wie man ihn sich wünschte – grell, laut und vor allem wild. Der Leadsänger hüpfte und warf sich hin, der Kopf hochrot, die Halsschlagadern selbst von dem höher gelegenen Platz der oberen Tribünen des Konzerthauses sichtbar, wie sie sich anspannten und die Mimik komplett verzogen.
„Kaum zu glauben, hm?“
Sam warf Bradley einen fragenden Seitenblick zu, nur um dabei zu bemerken, dass sein Blick wohl bereits seit einer längeren Weile auf ihr ruhen musste; versonnen ihre Gestalt einnahm und in seiner Wärme fast sanft war. Die Intensität seines Blickes irritierte Sam richtiggehend, und ihr „Was?“ bezog sich nicht nur auf seine Frage sondern auch darauf, was es war, das er wollte – oder warum er sie so anblickte.
„Das sie einen Plattenvertrag abgesahnt haben, meine ich“, schlug Bradley die direkte Konfrontation aus und rutschte nun ein wenig zu Sam. Er tat es ihr gleich; stützte sich auf seinen Unterarmen ab und lehnte sich in einer bequemen Position nach vorne und ließ den Pappbecher mit dem Bier locker in seinen Händen kreisen. Wie immer war er der Inbegriff von Entspanntheit und während Sam sich so oft wünschte, sich nur diese Ruhe aneignen zu können, die er konstant verströmte, machte es sie heute fahrig; ließ sie nervös werden. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb.
„Sie sind gut“, meinte Sam. „Ich meine, ein wenig exzentrisch, aber schau sie dir an – die Leute lieben sie.“ Sam versuchte, den rockenden Braunschopf Levis auszumachen, aber im Bündel der Leute war es schwer, überhaupt Personen auszumachen. Alles tanzte, stieß sich, drängte sich dabei weiter, in einem Takt, der nur von der Band vorgegeben, aber nicht umgesetzt wurde und Sam fragte sich, wann es war, dass sie jemals so eine ausartende Menge erlebt hatte. „Mir war es ein Fest für sie zu eröffnen. Ich liebe sie. Schau sie dir doch an“, Sam grinste leicht und nickte abermals hinunter, zur Bühne, wo der Schlagzeuger nur in einem Hauch Frauenunterwäsche gekleidet gerade das letzte Bisschen Stoff brüllend von sich riss. Sam musste lachen, schüttelte dabei ihren Kopf. „Das ist total abgefahren.“ Bradley brummte irgendetwas, doch bei der Lautstärke verstand ihn Sam nicht, aber das machte nichts. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und ließ diese Geste genug sein.
„Ich habe dich vermisst“, seufzte sie, sich der Tatsache durchaus bewusst, dass sie sich die letzten Tage und Wochen nahezu andauernd gesehen und miteinander interagiert haben, aber es ging um das, diese Momente, in denen sie eine Verschnaufpause mit ihm zusammen einlegte und weder Levi, noch Blake in ihrer Nähe waren. Manches Mal wollte sie nur Bradley. Niemanden sonst. Und obwohl sie hier gerade den größten Meilenstein ihrer bisherigen Musikkarriere markiert hatten, fühlte sie sich hundeelend. Da war ein Kloß in ihrem Hals, der dort nicht hingehörte; etwas, das aus den Tiefen ihres Bewusstsein feinfaserig unter ihre Haut getreten war und mit der leichtesten Irritation loszubrechen drohte. Sam könnte schwören, dass Bradley spürte, das etwas los war, doch dass er es nicht ansprach, hinterließ sie mit dankbarer Erleichterung. Sie wüsste nicht mal, was sie ihm sagen sollte. Wie sie es ihm sagen sollte. Oder überhaupt wollte.
Der Gig brannte noch in ihrem Hals. Sam griff nach Bradleys Becher, den er ihr bereitwillig überließ und nahm einen gierigen Schluck von dem Gebräu, genoss, wie es Schluck um Schluck ihre Kehle befeuchtete und seufzte danach erleichtert. Der Drang nach einer Zigarette war mittlerweile übermächtig, doch sie entschied sich, diesem nicht nachzugeben. Nicht jetzt.
„Ich bin müde“, schloss sie und überraschte sich mit der Aussage selbst. Bradleys überraschtes Hochziehen der Brauen konterte Sam nicht; es war immerhin so, wie es war.
„Es dauert noch eine Weile bis Mitternacht.“
„Ich weiß“, gähnte sie. „Mir egal. Ich bin hundemüde.“
„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Bradley scherzte nicht.
„Ich bin einfach nur müde, okay?“
Sie spürte sein forschen und sein suchen, aber Sam löste sich nur von seinem Arm und strich das dunkelbraune Haare, dass ihr mittlerweile bis zu den Ellbogen reichte, über die nackte Schulter und streckte ihren Rücken kurz. Sie trug einen zu kurzen Rock, dazu ihre halterlosen Strümpfe und Boots und die Blicke, die man ihr zuwarf waren heute etwas, die sie aus purer Absicht heraus hatten provozieren wollen – den schwarzen Militärmantel und die dazugehörige Mütze hatte sie im Backstagebereich liegen lassen, aber Sam wusste, dass sie in der Verkörperung der illusorischen Rocksirene heute auf ganzer Linie punktete. Wenn selbst Blake sprachlos wurde, hatte sie etwas richtig gemacht, wusste Sam. Trotzdem war alles, was sie jetzt wollte, den ausgebeulten, alten Jogginganzug von Zuhause, ausgerechnet das Exemplar, dass sie nicht mit nach Manchester genommen hatte. Sam rappelte sich ungnädig auf.
„Ist bei dir und Blake alles okay?“, hakte Bradley weiter nach. Sam kreiste kurz die Schultern und regte sich erst, als ein wohltuendes Knacken in der Nackengegend die benötigte Erleichterung verschaffte.
„Was soll die Fragerei, Brad?“, fragte Sam lahm und drehte sich jetzt zu ihm, die Brauen selbst hochgezogen, während ein Halblächeln versuchte, die Situation zu entkräftigen. Seine Intuition war wie die Pest, die sie heute nicht wollte, aber Sam wusste auch, dass es nichts war, das man einfach ein- und abschalten.
„Beantworte einfach meine Frage.“
„Warum denn?“, lachte sie halbherzig auf und wagte einen Blick über die Schulter und versuchte, in den tummelnden Menschenmengen Blake auszumachen, den sie mit ein paar Mitgliedern anderer Vorbands an einem der eingebetteten Tische hinterlassen hatte, die übersäumt waren von den klebrigen Graffiti der Getränkebecher. Sie sah ihn nicht, wusste aber, dass sie ihn mit einer Blondine am Arm zurückgelassen hatte.
„Weil was los ist, wenn du ausweichst. Also? Du weißt, dass ich-„
„Du tust es schon wieder.“
„Mir egal, dass du mich als Glucke belächelst, Sam“, wurde Brad jetzt ernster und wischte alleine durch das Anschlagen des Tonfalls das Halblächeln von ihren Lippen und hinterließ eine entschuldigende Betroffenheit. Sie hatte sich nicht über ihn lustig machen wollen, aber…
„Das ist einfach was, dass nur Blake und mich etwas angeht. Sorry, Bradley.“
Ihre Antwort, leise, aber deutlich, trieb den Ernst von seiner Stimme tiefer in seine Stirn; hinein in die Stirnfalten, die ihm etwas Alarmiertes vermachten aber Sam fand sich kraftlos wider. Sie wollte darüber nicht reden und sie stand dazu. „Es ist nichts, worüber du dich sorgen müsstest, es ist nur… Vielleicht können wir Zuhause in Ruhe reden, ja? Du und ich. Ich bin mir hier zu sehr auf dem Präsentierteller.“
„Natürlich.“ Etwas, das Bradley verstand. Natürlich tat er das. Hier am Geländer hatten sie eine kleine Insel der Ruhe, aber die Musik hämmerte unmissverständlich in ihrem Brustkorb, rhythmisch verräterisch und erinnerte wohl sie beide daran, wo sie sich befanden. Als gingen ihm dieselben Gedanken durch den Kopf, wandte Bradley sich um und brachte das Geländer in seinen Rücken und stieß sich eine Zigarette aus der Schachtel. Als er Sam eine anbot, schlug sie sie dieses Mal nicht aus und als sie den getrockneten Tabak in die dargebotene Flamme hielt und den Rauch tief in ihre Lungen einströmen ließ, hatte sie kein schlechtes Gewissen ob der plötzlichen Ruhe, die sich über ihre Nerven ausbreitete.
„Besser, hm?“, sie hörte sein vertrauensvolles Lächeln, sah aus den Augenwinkeln, wie seine Züge sich verschwörerisch verzogen, aber Sam grinste nur, ohne zu antworten und ließ das dafür Antwort genug sein.
„Ich glaube, ich gehe zurück. Nicht, dass ich Lust hätte, aber…“, er vollzog eine großmütige Geste. Jetzt lachte Sam.
„Was denn? Die Rothaarige an deinem Arm war dir so eine Last?“
„Sie heißt Anisa und sie hat einen französischen Akzent.“
„Du erschütterst mich. Du bist ja doch so, wie all die anderen“, Sam schnalzte verurteilend.
„Aber nur, weil du deine Maßstäbe an Logan festmachst.“
„Er ist ja auch das ultimative, schlechte Beispiel“, lachte sie.
„Sie ist nett, mag meinen Bart und studiert Philosophie. Solche Frauen trifft man nicht oft in so einem Laden, du entschuldigst also, wenn ich in die Vollen presche.“ Er klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und zwinkerte ihr spitzbübisch zu und entlockte Sam damit ein Kichern, die ihm dann einfach kurz hinterherwinkte, als er sich zwischen den Strom vorbeiziehender Besucher schob und dann in die Richtung zurückverschwand, aus der sie gekommen waren – mit dem Unterschied, dass er aufgrund seiner Größe und seiner langgewachsene Mähne klar dort auszumachen war, wo sie komplett verschluckt wurde. Sam lächelte für ein paar Sekunden in sich hinein, dankbar darüber, ihn Freund nennen zu dürfen. Den Auftritt auf vor ihrem geistigen Auge Revue passieren lassend, waren es vor allem die Eindrücke aus dem Publikum, die Sam wirken ließ. Sie wusste, dass ein paar Mitglieder ihres Fanclubs die Mühe der Anreise auf sich genommen hatten, aber in dem Lichtermeer, war es schwer, Gesichter von ineinander übergehenden Schemen auszumachen und so hatte Sam die letzte Nervosität von sich abgestreift, war an den äußersten Rand der Bühne getreten und hatte dabei nicht nur die Sicherheitsleute angezogen, wie eine Motte, das Licht. Sie lächelte ob dieser Erinnrung über den Rand des Zigarettenfilters, wie die Menge immer näher und näher gekommen war; wie die Männer in ihren schwarzen Jacken sich aufteilten um eine abschirmende Reihe zu bilden, doch Sam hatte sich dafür kaum interessiert und es an den Rand jener Dinge geschoben, die eine Wichtigkeit haben durften. Niedergestarrt hatte sie sie, gefühlt einen jeden einzelnen, während Blake und Levi sich in ihrem Rhythmus fanden, genauso spielerisch wie einspielend und mit Bradleys Schlagzeug im Rücken, dass die Zeit bis zum wahren Konzertbeginn atmosphärisch überbrückte, hatte Sam den Saal, diesen Abend indoktriniert, auf ihre Wirbelsäule geritzt, noch bevor ein Laut ihren Mund verlassen hatte.
Auch jetzt schloss sie kurz die Augen, erinnerte sich über den Geschmack des Tabaks daran, aber sie verharrte nur kurz in der Erinnerung vereinzelter Leute, die sich über die stählernen Arme der Securityleute gelehnt und Refrains mitgesungen hatten; an den Ausdruck in ihren Augen, dieser Notwendigkeit, die sie antrieb. Dann stieß auch Sam sich vom Geländer ab und ihre Sinne schärften sich für die Umgebung; die Blicke, die man ihr zuwarf und das undurchdringliche Wirrwarr an Stimmen streifte sie beinahe körperlich spürbar und es war ihr zu viel. Nicht erst in diesem Moment. Schon seit dem sie heute Morgen aufgewacht war; seitdem sie sich hier, in Manchester befanden und sich den Planungen dieser Silvesternacht komplett hingegeben haben.
Als Sam sich in die Menge fädelte und sich beinahe erdrückt fühlte, von dem Zigarettenrauch und dem Schweißgeruch, der plötzlich in ihre Nase strömte, schlug sie nicht die Richtung ein, aus der sie gekommen war. Stattdessen gliederte sie sich in einen dichten Strom, der augenscheinlich nur die Bar hier im oberen Stockwerk zu nutzen gedacht hatte und sich nun wieder auf den Weg nach unten, hinein in die Menge und in den Rausch der Musik machte.
Sam fiel gar nicht auf und wenn sie es tat, schenkte sie Lächeln und direkte Blicke aus stark geschminkten Augen und man reagierte geschmeichelt, freundlich, tatsächlich zuvorkommend, und noch Sam am Treppenabsatz mit ins Publikum dirigiert werden konnte, entschlüpfte sie dem Trubel. Sie sah noch, dass der Sänger sich auf den Bühnenrand gesetzt hatte, die Spitzen seines Irokesen ein goldener Kamm in dem gleißenden Licht und der Menge, die keuchte, schwitzte und Luft holte, vorgab, sich hinzusetzen – sehr zum Unwillen der Sicherheitsmänner. Man versuchte, ihn in seiner dürren Gestalt von dem Bühnenrand zu schieben. Aber Spike Splatter ließ sich nicht abhalten, er redete einfach über sie hinweg. Auf sein Geheiß sollten sie alle gleichzeitig hochspringen, er ordnete Eskalation, Moshpits an, das mit Pfiffen und lautem Klatschen befeiert wurde. Sam konnte nicht anders, als den Hut zu ziehen, neidlos und anerkennend.
Die Menge liebt ihn und er liebt sie, sah Sam wieder einmal, unfähig, sich gleich davon loszureißen, den sein mangelndes Gesangstalent machte er mit einer Publikumsbindung wett, die Sam so nur von einer Person kannte.
Sam aschte ein letztes Mal auf den Boden ab, dann ließ sie die Hände in die Seitentaschen ihres karierten Rockes gleiten und noch während sie sich durch die breiten Flügeltüren schob, die übersät waren von anarchistischer Symbolwut, hörte sie den Mann, den alle unterschätzten, seine Kommandos in das Mikrofon brüllen – und der Saal hinter ihr zerging in einer Feierwut, die einer Silversternacht gebührend war.
Sie lächelte, während die sternenlose Winternacht sie umfing.

*


Sams Alleinsein endete jäh und vorzeitiger als erwartet, als das schwere Klacken des Schlosses Blakes Ankunft verhieß und Sam, die im Badezimmer gerade daran war, rauchend und Whiskey trinkend, ihr Makeup abzunehmen, starrte in ihr regungsloses Ebenbild und wappnete sich insgeheim. Sie überlegt für einen Moment, ob sie abschließen sollte, aber sie wusste auch, dass sie ihm nicht länger aus dem Weg gehen konnte.
Er klopfte, aber sie hörte bereits an der kurzen Abfolge dass das hier mit ihm nun nicht leicht würde und ein Teil von ihr ärgerte sich darüber, dass er sie nicht einfach in Ruhe ließ, zumindest heute.
Blake erschien im Türrahmen, in der vollen Montur seiner Konzertaufmache und die Härte, die in seinen Gesichtszügen lag, war ausreichend, um Sam seinem Blick aus dem Weg zu gehen und stattdessen nach dem Glas zugreifen, einfach deshalb, damit sie etwas tat. Irgendetwas.
„Ich will wissen, was los ist“, forderte er mit einer geerdeten Ruhe so unverwandt, das Sam weiter Zeit schindete, indem sie einen tiefen Schluck nahm; mehr trank, fast schon gierig. Auch als Blake den Raum zwischen ihnen überbrückte und ihr das Glas fast schon ungeduldig aus der Hand riss, vermied sie den Blickkontakt und war bemüht, so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Sie zuckte vor ihm zurück, als würde er die Hand gegen sie erheben, in vernichtender Regelmäßigkeit, wenn doch alles war, was er tat, das komplette Gegenteil war. Seine Brust bebte, sah sie und als Sam den Kopf leicht hob, sah sie einen blanken Ausdruck in den markanten Windungen liegen. „Rede mit mir“, forderte er auf. „Und sag nicht, das nichts ist – es ist seit Wochen etwas. Wir haben Silvester. Ich werde dieses Zimmer nicht verlassen, bis ich weiß, was los ist.“
Sam schob sich an ihm vorbei, noch ehe sie ihm in die Augen sah, weil sie wusste, dass es dann vorbei wäre. Sie schloss die Augen, während sie von ihm weglief, wie sie das so oft tat, wie es vielleicht das einzige war, dass sie in Konflikten beherrschte, und rauchte die Zigarette weiter. Wohin sie wollte, wusste sie nicht. Es war nur wichtig, dass es weg war, von Blake. Aber es wäre zu einfach gewesen, wenn sie ihn einfach so hätte abschütteln können.
„Verdammt, Sam!“, gellte er nun hinter ihr und das ließ Sam zusammenzucken und innehalten – sich aber nicht umdrehen. Der Kloß in ihrem Hals verdichtete sich.
„Lass mich in Ruhe“, brachte sie rau hervor. „Bitte“, wieder schloss sie die Augen, kniff sie kurz zusammen. „Bitte, Baby. Nicht… nicht heute.“
Sam hörte ihn näher kommen, hörte, wie das Leder unter seinen Bewegungen knarzte und – Sam tätigte einen weiteren Schritt. Sie wollte nicht, dass er ihr nahe war; wusste, dass es sie einbrechen lassen würde, zumindest heute.
„Nein“, wiederholte er. „Ich renne dir nach. Jedes Mal. Jedes verdammte Mal. Ich habe es satt.“ Er klang nicht atemlos, wie er das oft tat, wenn sie seine Geduld strapazierte. Er klang so gefestigt in den Worten, als spräche er mit einer neugewonnen Klarheit. Sie machte Sam Angst; ließ Sam erneut einfach weiterrauchen, als wäre das Nikotin der letzte Anker, der verblieben war. Sie hasste das.
„Dann geh‘“, flüsterte sie. „Dann geh einfach, Blake. Niemand zwingt dich hierzu.“ Zu ihr. Zu ihnen. Scheiße, warum war es so kompliziert mit ihm geworden?
„Und was dann?“
„Vielleicht ist es besser so.“
„Verdammt, Sam!“
Blake stand vor ihr, auf dem beigefarbenen Teppich, der sich so abstrus zu der Schwärze seiner Lederstiefel kontrastierte und umgriff sie an den Schultern und zwang sie somit, ihn anzusehen. Als ihre Augen aufeinandertrafen, verstand Sam, dass sie längst weinte. Sam hatte keinen Acht, für Blakes eigene Verwirrung; konnte das sich stete wechseln des Minenspiels nicht in sich aufnehmen. Alles, was sie tat, war, sich in seine Arme zu werfen und an seinen Körper, die Wärme seines nackten Oberkörpers unter der offenen Lederjacke zu klammern. Die Zigarette rutschte ihr dabei aus der Hand und als Sam aufschluchzte, begann er, sich zu lösen, dieser Knoten und die ganze, aufgestaute Emotionalität der letzten Wochen, flossen in diesen einzigen Satz, den sie in seine Halsbeuge schluchzte.
„Ich bin schwanger.“
Sie spürte Blakes Arme an ihrer Seite, aber sie waren nicht so stützend, wie sie es bräuchte und Sam merkte, wie es Angst war, die sie ergriff, merkte, dass jetzt, wo sie es endlich ausgesprochen hatte, nichts mehr da war, das ihr Sicherheit geben konnte und das ließ die Tränen nur noch umso mehr strömen.
Blakes Arme regten sich und legten sich regelrecht zaghaft um ihre Schultern, doch die Berührung entlockte ihr nur ein vehementes Kopfschütteln. Sam ließ so abrupt von Blake ab, dass sie sich wegstieß und nach hinten taumelte. Sie schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, die Tränen wegzuwischen, was so abstrus war, da diese sich einfach nicht zurückhalten lassen wollten.
Sie schämte sich. Und sie hasste sich. Sie wollte nicht, dass er sie so sah und doch war seine Nähe so niederreißend für jedwede Form von Mauer, die sie errichtet hatte. Sie hatte stark sein wollen. Und eigentlich hätte Sam es ihm nicht gesagt; zumindest war es das, was sie sich gerade in Gedanken vorhielt. Das sie besser mal den Mund gehalten hätte. Sie wusste nicht einmal, ob sie sich Bradley hätte anvertrauen wollen und bei ihm zu zögern war aussagekräftig genug.
„Beruhige dich“, erreichte seine Stimme sie sanft und sie spürte wieder Hände, dieses Mal an ihren Oberarmen, und sie streichelten ihre Haut, die sich unter der Geste warmer Hände zu kalt anfühlte.
„Blake, nicht…“, aber er ließ sie einfach reden. Als er sie dieses Mal in die Arme zog, tat er es mit all der Stärke und Entschiedenheit, die sie beim ersten Mal benötigt hätte, aber sie ließ sich trotzdem von ihm auffangen, von seiner Kraft leiten und als Sam ihre Augen schloss und gepresst ein Schluchzen unterdrückte, gab es in dem Mikrokosmos des Motelzimmers nur Blake und sie. Unter dem unablässigen Kreisen seiner Fingerkuppen auf ihrem Rücken und dem „Sssh…“ das in unregelmäßigen Abständen über seine Lippen glitt, beruhigte sie sich langsam. Ihre Atmung normalisierte sie sich. Zumindest weitgehend.
„Wie weit bist du?“, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit. Sam wusste es nicht. Sie konnte es nur vermuten, zuckte entsprechend mit den Schultern.
„Wie kannst du das nicht wissen“, lachte er leise und seine Stimme war dabei fern von Vorwurf.
„Diese Scheißperiode“, flüsterte Sam aber nur, „Ich habe sie einfach nie so schlimm und… manches Mal vergesse ich, dass ich sie hatte.“
„Vergessen?“ Sam hörte seinem Tonfall das Augenbrauenspiel an, aber es kümmerte sie nicht, nicht jetzt und es brachte sie auch jetzt nicht zum Lachen.
„Man, was willst du jetzt hören?“, verteidigte sie sich kraftlos. „Ich denke… ich glaube, ich bin im dritten Monat“, schniefte sie und hob ihren Kopf von dem Leder, das warm an ihrer Wange gehaftet war und im gedimmten Licht des Raums von der Tränennässe warm schimmerte. „Ich… scheiße, Blake“, fluchte sie. „Ich glaube, es ist zu spät, noch irgendetwas zu unternehmen.“ Das erste Mal, seitdem er das Motelzimmer betreten hatte, wagte Sam nun den Blickkontakt, den sie als Konfrontation gefürchtet hatte. Aber das war nicht das, was sie in Blakes Augen erblickte, oder was sich in die Züge, die sie immer in den selbst größten Menschenmassen finden würde, müsste sie es nur, abzeichnete und diese Mischung als milde Überraschung und aufkeimende Alarmiertheit, ließ Sam selbst innehalten.
„Was ist?“, fragte sie und neigte unsicher einen Kopf auf die Seite, aber er antwortete nicht gleich; rang nach Worten und war darin so untypisch Blake, das Sam erneut stockte. Ob sie ihn jemals um Worte hadern gesehen hatte? Er fuhr sich durch das Haar, nachdem er den Blickkontakt abriss; fuhr sich über das Gesicht und atmete tief ein und aus und in dem Moment, als sie diesen Funken in seinen Augen sah, dem Angst anhaftete, verstand Sam.
„Du willst das Kind.“ Realisieren prallte mit der Wucht tosender Sturmgischt gegen ihren Körper. Ihre Blicke trafen sich erneut und er hielt ihren Augen so unverwandt stand, mit einer Sicherheit in diesem Dunkelbraun, die auch seiner ganzen Haltung anhaftete, seine Schultern straffte.
Seine Antwort war klar. „Warum denn auch nicht?“
„Warum denn auch nicht?“ Sams Stimmung schlug um und sie merkte, wie Wut ihren Worten nicht nur Flügel, sondern auch Durchschlagkraft verlieh. Ungläubig starrte sie ihn an. „Das…“, sie lachte auf, leise, aber trotzdem eine Nuance zu schrill, dann schüttelte sie erneut den Kopf. „Das ist jetzt nicht dein Ernst!“
Jetzt war es an Blake, zu fluchen. Als er sich bewegte, trat die Fahrigkeit in seine Glieder zurück, doch wo er vorhin einen zornigen und entschlossenen Eindruck hinterlassen hatte, sah Sam jetzt Ruhelosigkeit und der Anblick befriedigte sie. Gut! Sollte auch er anfangen, sich einen Scheißkopf zu machen, es war schließlich nicht so, dass sie sich alleine in diese Lage gebracht hatte. Blake rang wieder nach Worten, fuhr sich wieder durch das Haar, dann aber brach es auch aus ihm heraus. „Fuck, Sam, was willst du von mir hören? Dass ich das Kind nicht will? Das ich gar keine Kinder möchte?“
„Du und ich, wir haben nie über Kinder geredet, okay? Nie!“
„Du bist ja auch erst Achtzehn!“
„Aber zum Beinespreizen reicht es, oder wie?“, schnappte sie zurück. Unter anderen Umständen hätte Sam die Worte sofort in dem Moment bereut, als sie ihr entrutscht waren, aber heute war ihr das drohende Lodern in Blakes Augen egal. Sie hatte keine Lust auf ihn Rücksicht zu nehmen. Nicht damit, hier ging es nicht einfach nur um eine Eventualität. Sie hing schon längst in der Scheiße und badete die Konsequenzen aus, während es ihm absolut nichts machte und Himmel, wie es sie wütend machte. Sie wollte mit ihm streiten, verstand sie, während Sam zu ihm herüberfunkelte und an dem Saum ihres Tops herumnestelte, ehe sie Arme in eine Verschränkung warf. Sie wollte, dass er es in der vollen, hässlichen Breitseite abbekam. Aber Blake ließ sich heute nicht reizen, nicht in diese Richtung.
Sam beobachtete ihn, wie er durch das Motelzimmer tigerte, nur um am Fenster stehen zu bleiben, dass in die Dunkelheit des Innenhofs hineinreichte, dessen einzige Lichtquelle eine schwach flackernde Straßenlaterne war, die in ihrem matten Strahl den wilden Tanz der fallenden Schneeflocke bezeichnete.
„Du weißt nicht, was du da redest“, urteilte er leise, während er nach seinen Zigaretten kramte, aber als sich der Filter zwischen seine Finger schmiegte, steckte er sie sich nicht zwischen die Lippen. Stattdessen behielt er sie einfach in der Hand und sah sie an, als erhoffe er sich eine Eingebung. Irgendeine.
„Ich weiß, dass ich jede Möglichkeit und jeden Gedanken dazu in den letzten Wochen totgewälzt habe. Sage mir nicht, dass ich nicht weiß, was ich da rede.“
„Aber ohne mich!“, fuhr er sie jetzt an und blickte sie erst über die Schulter an, senkte ihn dann aber wieder kopfschüttelnd. „Hier geht es nicht nur um dich, das ist eine Sache, die mich genauso betrifft, wie dich. Du hättest mit mir darüber reden sollen. Ich meine…“, er lachte trocken auf. Rau. „Wozu dieses Gespräch, wenn du dich ohnehin schon entschieden hast?“, vernichtende Nüchternheit offenbarte, dass er verletzt war und obwohl Sam sich selbst sagte, beschwor, dass sie nicht verstehen wollte, trafen seine Worte sie doch genau deshalb.
„Ich…“, sie schluckte, „ Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich bin verzweifelt. Ich… scheiße, ich könnte die ganze Welt niederbrennen. Ich will das nicht. Ich hasse das!“, stieß sie aus. „Ich hasse es, dass es mir passiert und-„
„Was ist denn so schlecht an einem Kind?“
„Ich will nicht darüber reden, Blake, ehrlich, nicht so, ich –„
„Vergiss es, Sam“, unterbrach er sie und jetzt zündete er sich die Zigarette an, „du willst dieses Kind nicht? Meinetwegen. Aber es ist auch mein Kind, also bist du mir die Scheiße schuldig, deine Gedanken, die du angeblich schon totgewälzt hast, ohne mich, damit ich zumindest eine Chance darauf habe, zu verstehen, was in deinem Kopf vorgeht!“
„Warum bist du denn so sauer!“, entwich es ihr und nun war sie es, die ihre Stiefel in den hohen Flor des Teppichs grub, hin und her lief, als könnte es die Situation entschärfen. „Was will ich jetzt mit einem Kind? Was wollen wir mit einem Kind?“
„Natürlich ist es nicht ideal, darüber brauchen wir überhaupt nicht reden, aber soetwas wie den richtigen Zeitpunkt gibt es nie, ich meine… Fuck… wie könnte man jemals irgendwann für ein Kind bereit sein?“
„Ich bin achtzehn Jahre alt!“, schoss sie nun zurück, mit einer Leidenschaft, die ihrer Verzweiflung endlich Ausdruck verlieh. „Ich habe weder eine Ausbildung, noch einen festen Job und… ich lege alles, was ich habe, in das hier“, unwirsch fuchtelte sie in die Mitte des Raumes, „In dich, in mich in diese Band und… man, wir können das schaffen, Blake, ich weiß es. Mit einem Kind…“, sie suchte nach Worten, fand aber keine geeigneten, erst recht keine netten, „kann ich mir gleich die Kugel geben!“
„Es kann doch nicht dein Ernst sein, dass du diese Band über das Kind stellst?!“
Sam sah ihn an und sah, wie ihre Welten kollidierten und sie spürte, dass er sie durchaus verstand, dass er sah, was es war, dass sie antrieb und dass er ihren Ehrgeiz und ihre Ambition mitverfolgt hatte, in den letzten Wochen und Monaten, aber dass das der Punkt war, an dem sie auseinanderdrifteten und… es war eine Sache, es zu vermuten, es zwischen die Ritze ihrer beiden Matratzen zu schieben und so zu tun, als wäre das Thema kein präsentes in ihrem Leben, aber es jetzt nicht nur zu hören, sondern zu erleben, brach ihr das Herz und ließ es im gleichen Atemzug erkalten. Als ließe sich die Situation nur so ertragen.
„Aus mir ist auch etwas geworden“, schlug er die Brücke, wenig versöhnlich, aber sie hörte, wie seine Intonation minimal milder gestimmt war. Doch die Härte, das ungläubige Urteil in seinen Augen hing nach wie vor zwischen ihnen und es konnte das Schutzschild, in das Sams Herz sich einmantelte, nicht erweichen oder zum Rückzug zu bewegen.
„Wie gut das für dich funktioniert hat, sieht man ja.“ Ihre Worte waren ein Wispern, aber sie trafen und sengten sich auf Blakes Person. Sie hatte keine Lust mehr, realisierte sie, war müde und… man… „Seit wann ist alles mit dir zu einem ewigen Kampf geworden?“, murmelte sie und Sam drehte sich um und ließ sich auf einem der ausladenden Sessel nieder, die eine abgesessene, wenn auch gemütliche Sitzecke bildeten. Sie streckte die Beine kraftlos von sich und lehnte ihren Kopf an die Ohrenstütze.
Blake stand mit dem Rücken zu ihr zugewandt, regungslos. Sein Gesicht hinterblieb eine milchige, undeutliche Spiegelung in der Fensterscheibe, die das matte Licht und das grausame Schauspiel des Motelzimmers verblasst auf den Nachthimmel schleuderte. Wie so oft in letzter Zeit wanderte ihre Hand instinktiv zu ihrem Unterleib, aber in ihrer Geste lag keine mütterliche Sanftheit, sondern eine Gewohnheit, eher antrainiert, als tatsächlich liebend. In ihr stürmte es und sie wünschte, sie befände sich jetzt in Blackpool, in diesem alten, holzüberladenem Dachzimmer im Haus ihrer Großmutter und könnte sich Nachts an den Strand schleichen und ihre Frust, ihre Wut, ihre Trauer, einfach alles, in die unendliche Weiten hinausschreien und vom Meer einfach mitreißen lassen. Aber das war sie nicht. Und dieses Zimmer hier nahm ihr die Luft zum atmen. Sie hatte Blake erzählen wollen, von ihrer Angst, keine gute Mutter sein zu können, weil sie nicht wusste, wie das ging. Weil ihre Mutter nicht dagewesen war und dass die wenigen Erinnerungen, die sie aus dem Kleinkindalter noch besaß, überschattet wurde von dem Verrat in diesem zehrendem Winter, der dem diesen hier ähnlicher war, als Sam es lieb sein konnte. Aber nun, wo ihre Auseinandersetzung sich bitter und schwer über die Atmosphäre legte und ihre Seele beschwerte, fand sie keine Worte dafür. Entschied, dass es keine geben sollte. Nicht heute. Nicht an diesem Abend.
„Was ist es, das du willst?“
Sams Augen flimmerten zu Blake, dem Rücken, den er ihr immer noch zugewandt hielt. Er sah sie durch die Spiegelung der Glasscheibe an, betrachtete sie, während er wie benommen rauchte, aber das Bild war zu unscharf, als dass sie tatsächlich nachzeichnen könnte, was es war, dass gerade in seinem Kopf vorging. Trotzdem wusste sie intuitiv, dass es nicht das Kind war, wovon er redete. Das dieses Wesen, so klein und übermächtig lebendig, im Anbetracht der Umstände der Nichtigkeit wich.
Er redete von ihr und ihm. Von ihnen beide, als diesen Zusammenschluss, als den sie sich doch kreiert und liebten und dem, egal, was es war,… das einfach nicht reichte.
Irgendetwas reichte nicht. Und Sam wusste nicht, was es war, das nicht reichte. Shit. Sie hasste es so sehr. Es brach ihr das Herz und insgeheim wusste sie, dass dieses Thema sie die letzten Wochen ebenso intensiv beschäftigt hatte, wie der Geist dieses Kindes, das zu töten sie so efrig bereit war.
Sie hasste es. Diese Situation.
Am allermeisten sich selbst.
Aber eine Antwort wollte nicht kommen.
„Ich will dieses Kind nicht. Das ist alles, was ich weiß“, flüsterte sie zurück und sah, wie Blakes Kopf sank; wie er Rauch seinem Brustkorb entgegenschickte und der Riss zwischen ihnen zu dieser Schlucht aufbrach, über die Sam sich hechten wollte, jetzt in dem entscheidenden Augenblick. Trotzdem tat sie es nicht. Sam blieb einfach sitzen und sah, wie er seine Haltung wieder begradigte und sich langsam, zu langsam, zu ihr herumdrehte. Der Gesichtsausdruck, bleich und die eine Hälfte von den Schatten des Zimmers verzehrt, war blank und sie spürte die Kraftlosigkeit, die sich durch markante Schmäle seines Gesichtes zog. Aber es lag eine kalte Akzeptanz in den Blick, die solch eine Angst in ihrem Körper hinaufjagte, dass sie schluckte – als würde sie ihr Innerstes gleich vor seine Schuhe hinauswürgen und flehend auf die Knie gehen.
„Mach was du willst.“
Mit diesen Worten hinterließ er sie in dem Sessel und dem Motelzimmer, in dem sie sich einen letzten Abend der Ruhe und des Brütens erhofft hatte und das nun, in der Nacht, die so formvollendet unter dem Zeichen des Neuanfangs stehen sollte, beengte, wie ein Sarg. Als Blakes langsame, deutliche Schritte und das finale Zuwerfen der Türe nur noch einer Kassette in ihrem Kopf glich, die sich immer wieder und wieder und wieder abspielte und eine Endgültigkeit ausbreitete, die sie entwurzelte, kamen die Tränen wieder.
Und dieses Mal hielt Sam sich nicht zurück. Sie weinte, bis sie sich leer fühlte und weinte dann weiter, bis die Silhouette seiner Rückenansicht zu einem schwarzen Kleks zerfloss und die Erinnerung sie versagte. Als das fulminante Feuerwerk derStadt vor ihrem Fenster explodierte, waren ihre Tränen trocken – aber ihr Spiegelbild ein zu dünnes Gerippe einer jungen Frau, die sich verloren hatte und nicht wusste, wie sie sich selbst wieder zu greifen vermochte. An der Stelle verweilend, an der Blake zuvor gestanden hatte, ein Glas Wasser trinkend, begann das neue Jahr genau so einsam, wie sie sich fühlte.
*



„Saaaaam“, das entnervte Stöhnen Levis riss Sam an diesem Januarnachmittag zum dritten Mal aus den Gedanken. Zerstreut räusperte sie ein „Sorry“ und rieb sich kurz die Augen und griff dann ihre Haare im Nacken zusammen, um sie zu einem behelfsmäßigen Dutt aus dem Weg zu schaffen.
„Sicher, dass du okay bist? Wir können auch einfach aufhören für heute“, Levi stellte einen Fuß auf dem Verstärker ab und warf ihr einen Blick zu, der eine deutliche Antwort einforderte. Auch Bradleys Augen waren auf ihrem Rücken zu spüren und tatsächlich gab es nichts, gar nichts, dass sie ihnen heute leidenschaftlich und voller Engagement entgegensetzen könnte. Jetzt war es an ihr, zu seufzen.
„Man, es tut mir leid. Wirklich. Heute ist einfach nicht mein Tag.“
„No shit“, nickte Levi. „Ich weiß nicht, wann du das letzte Mal drei Einsätze hintereinander verpasst hat.“
„Dürfte das erste Mal sein“, schaltete sich Bradley ein, der sich ächzend hinter den Drums erhob, „Aber wehe, uns würde das passieren.“
Levi lachte in bellender Bestätigung und Sam schenkte ihnen ein gequältes Lächeln, während sie wieder in ihre Strickjacke schlüpfte, die sie zuknüpfte und dann eng an ihren Körper presste. Sie fröstelte.
„Du wirst doch nicht wieder krank, hmn?“, brummte Bradley aber Sam schüttelte verneinend den Kopf.
„Ich schlafe im Moment einfach so schlecht. Weiß jemand zufällig, in welcher Phase des Mondzyklus wir stehen? Wenn wir auf Vollmond zusteuern, könnte das tatsächlich viel erklären.“
„Vollmond, hmn?“, Bradleys Brummen war urteilend und ungläubig. Aber Levi kam ihr mit einem Blick zur Hilfe, der abzumessen schien, ob sie noch ganz klar bei Verstand war.
„Was ist das denn für eine esoterische Scheiße. Vollmond. Ehrlich, Sam? Vollmond ist eine Lüge.“
„Hast du überhaupt je eine Schuleinrichtung von innen gesehen?“, konterte Bradley und entlockte Sam damit ein lautes Auflachen und Levi schlenkerte mit seinen Armen und ahmte ihr Lachen überdramatisch nach, bevor er Bradley demonstrativ den Mittelfinger präsentierte.
„Leck mich, Alter. Ich meine nicht den Vollmond an sich, sondern diese Bewegung, die schwört, sie könnten bei Vollmond nicht schlafen und so weiter und so fort. So ein beschissener Humbug. Wie läuft es bei dir und Blake in letzter Zeit eigentlich im Bett? Ich schwöre dir, wenn ihr euch mal wieder so richtig-„
„Kann nicht klagen, danke“, unterbrach sie ihn gepresst, aber Levi zeigte sich unbeeindruckt.
„Sam, ich meine es ernst, wenn ihr euch gegenseitig mal einfach wieder so richtig durchnehmt, du weißt schon, am besten den ganzen Abend immer und immer wieder, dann-„
Bradley würgte seinen Schluck von der Wasserflasche gerade noch hinunter, bevor er in seinem Ausbruch bellenden Lachens alles über die verschiedenen teppichlagen spucken konnte. Dröhnen wurde sein Lachen von den grünen Dämmplatten des Raums verschluckt.
„Seit wann bist du denn zum Sexexperten geworden, Delaney?“, dröhnte er, „Wann wurdest du denn das letzte Mal flachgelegt?“
„Weißt du das? Spar dir die Scheiße“, entgegnete Levi lahm, aber er grinste trotzdem. „Du weißt ganz genau, wie Recht ich damit habe.“
Sam nutzte den Moment und verborg das wissende Hochzucken ihrer Mundwinkel hinter dem Rand der Wasserflasche und zog sich so galant aus der Affäre, ohne sich weiter dazu äußern zu müssen. Blake war kein Thema, dass sie aufkommen lassen wollte, zumal es in ihrem Leben seit Silvester so überpräsent war, dass die Mühen, das vor Bradley und Levi zu verbergen, sie tatsächlich körperlich erschöpften und emotional auslaugten.
Blake war kein gutes Thema. Nicht seit Silvester, wo er erst in den frühen Morgenstunden zurück aufs Zimmer gekommen und dann einfach im Sessel geschlafen hatte. Seitdem tanzten sie aneinander vorbei, versuchten, sich zu arrangieren, mit verstohlenen Blicken, sanften Gesten aber trotzdem anhaltender Distanz, die sie mittlerweile gerne mit ihren eigenen Zähnen zerreißen mochte. Sam wusste, dass Blake den heutigen Arztbesuch ausgeharrt hatte und jetzt, wo er hinter ihr lag, war die Unklarheit, wie es mit ihnen weiterging, etwas, dass sie so nervös machte, dass sie am liebsten davongelaufen wäre.
„Ist es echt okay, wenn wir das hier für heute canceln?“, fragte Sam und Levi, der sich gerade unter einem spielerischen Boxschlag Bradleys hinwegduckte, nickte dann freimütig.
„Klar. Blake ist doch ohnehin nicht hier. Ruh dich lieber etwas aus“, diese Worte setzte er in Anführungsstriche und lächelte dann ebenso dreckig, wie aufbauend. „Einfach ein bisschen erholen. Wenn du weißt, was ich meine“, er zwinkerte und sank dann etwas unter dem Prankenschlag Bradleys ein, der ihm erst auf die Schulter klopfte, dann seine Hand dort ruhen ließ.
„Sicher dass du okay bist?“, hakte er noch mal nach, wie immer sanft und wie immer mit einem wissenden forschen, dass Sam verriet, dass er doch eigentlich längst wusste, das etwas los war und Sam hatte sich vorgenommen, ihn einzuweihen, irgendwann. Dann, wenn sie es selbst nicht mehr ertrug und jemanden benötigte, mit dem sie all das teilen konnte. Jetzt aber nickte sie einfach nur und lächelte aufmunternd, dann zog sie die beiden in eine verabschiedende Umarmung und küsste sie auf die Wangen, Levis glatt rasiert und weich, Bradleys wohlduftend und an den Barträndern fein ausrasiert.
Sie verabredeten sich für Mittwochnachmittag, also übermorgen und als Sam in den Gang hinausschlüpfte, schloss sie den Reisverschluss ihrer schwarzen Winterjacke und sperrte mit dem Hochschlagen der Kapuze den feinen Gesang Alexis‘ aus, der von der Weite des Ganges sanft von hinten an sie herangetragen wurde. Das, was den anderen längst ungehört in das Unterbewusstsein übergekrochen war, war etwas, dessen Sam sich nach die vor überdeutlich gewahr war, aber heute war kein Tag, an dem sie sich mit Nichtigkeiten und anderen Personen auseinandersetzen oder herumschlagen wollte. Nachdem sie die kleine Vortreppe erreicht hatte, die etwas zu glatt auf die abzweigenden Wege hinter dem Jugendhaus lenkten, nahm sie vorsichtig Stufe um Stufe und als der frisch gefallene Schnee unter ihren Schuhen knirschte, lenkte sie ihren Blick zum Himmel und erlaubte sich ein tiefes, ganz bewusstes Einatmen und Ausatmen und störte sich nicht an den zartschmelzenden Kristallen, die einen kurze, stechende Kälte auf den Flecken ihres Gesichtes hinterließen, nur um sich dann auf der Wärme der Haut komplett zu zergehen.
Sam haderte nur kurz, in welche Richtung sie gehen wollte, wie sie den Tag weiterhin tragen wollte, doch ihre Füße fällten ihre Entscheidung von ganz alleine, als sie sie weg von der Küste und dem stählernen, grauen Schimmer einer Sonne trugen, die es kaum schaffte, sich durch Dunkelheit dicker Schneewolken zu kämpfen, hin zu dem lahmen Treiben der Stadt, in der heute die Abgase deutlich schmeckend in der Luft hingen und sich an Hauswänden, in Kleidungen und an die Seele der Menschen haftete.
Sie fand den Weg zu der kleinen Lagerhalle nicht gleich, aber nachdem sie sich in einem kleinen Immobilienlädchen erkundigt hatte, war der besonders schmale Eingang zu dem Hinterhof als Abkürzung schnell gefunden und Sam fand Blake augenblicklich, denn schon aus der Weite konnte sie sehen, wie er daran war, mit zwei Personen einen schwer aussehenden Schrank aus dem vollbepackten Inneren des Umzugs-LKWs zu laden. Wieder eine Zwangsräumung, dachte sich Sam, und erinnerte sich dabei an Blakes Worte, dass das für Lytham gar nicht mal so untypisch sei, vor allem nicht in den Wintermonaten, wenn Geschäfte einbrechen und sich Finanzlagen brachial ändern konnten. Sein Chef machte gutes Geld mit den Möbeln und verteilte faire Anteile an seine Männer und Sam wusste, dass das auch der Grund war, wieso Blake die Arbeit, so schweißtreibend sie auch war, deswegen relativ gerne machte. Er sah sie nicht gleich, aber als er, erschöpft wirkend und irgendetwas zu einem Kollegen lachte, hatte ein bärengroßer Typ mit langem Haar und einer Mütze sie längst entdeckt. Unsicher hob sie ihre Hand zu einem Gruß. Sam trat damit eine Gruppendynamik los, die sie nicht hören konnte, aber als sie langsam zu der Gruppe hinzustieß, hatten sie längst begonnen, sich zu zerstreuen – freundliche Grüße und neugierige Blicke waren alles, das sie noch mitbekam.
Sam schmunzelte. Blake trennte dieses Leben relativ deutlich von seinen Musikaktivitäten und auch von ihr, deswegen konnte sie es nachvollziehen. Auch sie erwischte sich dabei, wie sie ihren konträren Personen, riesengroß und untersetzt massiv, hinterhersah und sich fragte, wie sie wohl hießen und wie sie sein mussten; wie es war, mit ihnen zusammenzuarbeiten, mit welchen Insidern sie sich zum gegenseitigen Prusten brachten.
„Jimmi und Bucks“, erklärte Blake, der sich die Arbeiterhandschuhe von den Händen zog und ihrem Blick in die Richtung des kleinen, abgegriffenen wirkenden Bürogebäudes folgte. „Neffen vom Chef. Nette Kerle.“
„Glaub ich“, stimmte Sam zu und als sie ihren Kopf zu ihm drehte, begegnete sie seinem Augenpaar ungewohnt plötzlich. Er hatte sie hier nicht erwartet, wusste sie. Tatsächlich hatte sie seine Trennung so hingenommen, weil sie sie stillschweigend befürwortet hatte. Warum, dessen war sie sich selbst nicht im Klaren. Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln, durchzogen von ihrer eigenen Unsicherheit. Nervös grub sie ihre Hände noch tiefer in die Taschen ihres Mantels.
„Können wir reden?“, kam Sam unvermittelt auf den Punkt. Nur kurz sah sie an sich hinab, auf ihre ledernen Boots, die unsichere Linien in den Schnee zogen und hinab auf seine Arbeiterschuhe, ledern, abgenutzt und derb – und ruhig. So ruhig.
Er antwortete nicht gleich und Sam wusste nicht, was es war, dass er suchte, als er in ihrem Anblick, in ihrem Gesicht, in ihren Augen sann, aber sein „Klar“, war genauso klar, wie es erleichternd klar war. „Lass mich hier nur noch schnell fertigmachen, dann können wir gehen. Ich wollte heute ohnehin früher Schluss machen.“


*



Sam rieb sich erleichtert die Hände aneinander und beobachtete Blake dabei, wie er sich die Mütze vom Kopf zog. Er zerknüllte die Wolle in seinen Händen und drehte sich in fragendem Abwarten zu ihr herum, aber Sam nickte nur zögernd und lächelte in zaghafter Bestätigung. Dann reihte er sich in die kleine Schlange der Bäckerei und versank im Anblick der Leckereien, die sich hinter der dicken Glasscheibe grell beleuchtet hervortaten. Sie konnte die letzten Überreste feiner Schweißperlen auf seiner Stirn stehen sehen und zeichnete nahezu gedankenverloren die markanten Züge seines Seitenprofiles nach – die Erkenntnis, dass er so wenig mit dem jungen Mann gemeinsam hatte, den sie an diesen ersten, so verheerenden Abend in Lytham auf der Bühne gesehen und später dann so losgelöst auf seinem Balkon kennenlernen durfte, traf sie dabei hart. Er sah älter aus. Mitgenommener. Die Frage, ob das ihr Werk war, ob ihre Beziehung zu ihm eine ausgeartete Mitschuld daran trug, lastete schwer. Besonders heute.
Sam rutschte auf der abgenutzten Polsterung an den Fensterplatz, nicht ohne ihre Jacke in den schmalen Spalt zwischen die Wand und ihr zu stopfen, um sich so vor dem minimalen Zug zu schützen, der sich in dieser Jahreszeit gerne durch die Ritze baufälliger alter Gebäude drängte.
Als Blake zurückkehrte, balancierte er zwei Tassen Kaffee – schwarz – und einen Teller voller kleiner süßer Leckereien, das Sam ein kurzes Lächeln abrang. Er wusste um ihre Essgewohnheiten und hatte aufgehört, sie mit Kuchenstücken oder anderen ausladenden Gebäcken zu überhäufen – Kleinigkeiten waren da besser. Verschwanden schneller im Mund, lagen nicht so schwer im Magen, es musste nicht so viel aufgegessen werden und man musste auch kein schlechtes Gewissen haben – die restlichen Teilchen nahm man dann einfach mit.
„Danke“, sprach Sam leise, nachdem Blake sich auf der Sitzbank ihr gegenüber niedergelassen hatte und ihr den Kaffee entgegenschob. Die dichten Schwaden der dampfenden Tasse taten gut auf der kalten Haut ihres Gesichtes und beinahe war es Sam so, als könne sie das Koffein förmlich riechen. Ein wohliges Seufzen entwich ihr.
„Starkes Zeug. Genau das, was ich jetzt brauche.“ Sie schob beide Hände eng um die bauchige Tasse und hielt sie fest in ihrem kalten Griff, während die Hitze der Tasse wohlige Schauer durch ihre Fingerspitzen jagte.
Blake warf ihr einen überraschten Blick über sein eigenes Treiben zu; schob den dicken Stoff der Jacke von sich, den er neben sich bettete. Mit dem ausgewaschenen dunkelblauen Pullover sah er schon wieder mehr aus, wie jemanden, den sie kannte, aber der Tisch, der sich zwischen ihnen befand, trennte sie immer noch um diese gefühlten Welten. Das kleine Bisschen Entspannung, dem Sam Einzug gewährt hatte, verflog wieder. Automatisch begradigte sie ihren Rücken ein wenig und senkte ihren Kopf.
Sie wusste einfach nicht, wie sie das hier lostreten, beginnen sollte. Sie war schlecht in so etwas.
Sie hörte, wie er, er ihr auch den Teller entgegenschob, aber Sam schüttelte den Kopf.
„Nein, danke. Ich habe keinen Hunger.“
„Iss“, seine Stimme war weich, aber der Tonfall trotzdem unmissverständlich. „Du musst mehr essen. Das weißt du selbst.“
Wann war auch Essen so ein Thema zwischen ihnen beiden geworden? Sam begradigte ihren Kopf und begegnete Blakes Blick und für einen Moment war er da, dieser Impuls, ihn einfach trotzig niederzustarren, weil sie tatsächlich keinen Hunger hatte, aber dann entschied sie, dass sie diesen Kampf nicht fechten wollte. Zumindest nicht heute. Nachgebend, sanken ihre Schultern ein wenig ein und sie schnappte sich einen Scone, versehen mit würzigem Basilikum, so wie er roch. Blake beobachtete sie dabei nicht, aber er wählte sich erst eine kleine Zimtschnecke aus, nachdem sie zugegriffen hatte.
Das Schweigen, das zwischen ihnen hing, hätte Gebäude entzwei schneiden können, empfand Sam und sie war dankbar, dass er vorgeschlagen hatte, hier, über einer Kleinigkeit zu Essen, zu reden. Zuhause war immerhin zu intim dafür geworden, sie wusste, das nicht nur sie so empfand; ihr Zuhause hätte dieses Gespräch vielleicht nicht ausgehalten. Sie hätten das Zuhause, in dieser atmosphärischen Besonderheit vielleicht nicht überlebt. Befangen nestelte Sam an dem Scone herum, ehe sie einen Bissen davon nahm, und sich mit einem Blick aus die leicht beschlagene Fensterscheibe hinaus in das zunehmende Schneetreiben ablenkte. Sie trank einen Schluck. Schindete weiterhin Zeit. Hoffte, dass vielleicht Blake das Wort ergreifen würde, wie er das so gut konnte, aber… Es war nur Schweigen, sich verdichtendes, intensiver werdendes Schweigen, dass sich über sie legte, wie dieser undurchdringbare Vorhang, wie er das schon seit Silvester tat. Schicht um Schicht. Sie immer weiter voneinander abschirmend.
„Ich bin nicht schwanger“, entwich es ihr dann und für den ersten Moment traute sie sich nicht, ihn anzusehen. Sie könnte nicht weitersprechen, täte sie es. Deswegen tat sie es einfach nicht, umklammerte den Kaffee einfach nur fester in ihren Händen. Nahm einen Schluck. Wiederholte das Procedere. Hörte, dass es bei Blake ganz still geworden war. Noch stiller.
„Ich… der Arzt vermutet, dass es mit meinem Gewicht zusammenhängt. Zierliche Frauen hätten damit öfters Probleme. Er…“, sie räusperte sich, „Er hat mich gefragt, ob ich momentan viel Stress habe und wie ich mit meinem Alltag klarkäme, all diese Dinge und… ja, es scheint ein Zusammenspiel all dieser Sachen zu sein, aber der Ultraschall war eindeutig. Dort ist nichts.“
Sam versuchte, sachlich zu klingen, fand sich aber immer wieder im Ringen um Worte und Fassung wieder. Es war nicht so, dass sie den Tränen nahe war, aber da war diese Leere in ihr, die sich von ihrem Unterleib über ihren ganzen Körper schob und sie dabei immer weiter unterdrückte und niederkämpfte. Dort, wo die letzten Wochen immer wieder ihre Hände hingewandert waren, ungläubig, tastend und erspürend, vermutend, war nichts, außer verkümmerte Dysfunktion.
Ihre Eierstöcke sähen nicht gut aus. Nicht normal entwickelt für eine Frau in der Blüte ihrer Fruchtbarkeit. Sie müsse mehr für ihre Gesundheit tun. Mehr frische Luft. Den Kontakt zu anderen Frauen suchen, vorzugsweise in handwerklichen Gruppenkursen, so würde man heutzutage gute Kontakte knüpfen. Mehr Essen. Das sei wichtig. Das sei für sie das allerwichtigste.
Als ihre Wimpern aufschlugen und sie Blake ansah, war Sam vor lauter Schuldbewusstsein kleingeworden. Sie war traurig, wusste sie; traurig, obwohl sie sich so sehr gegen die Möglichkeit des Kindes gewehrt hätte. Jetzt hämmerte die Frage in ihr Bewusstsein, ob sie den Abbruch hinbekommen hätte, hätte sie in dem schwarzen Organflimmern des Bildschirms nur Leben zappeln sehen können – Blake und sich vereint in der einzigen Sachen, die gut in ihrem Leben schien.
„Ich…“, begann sie wieder, aber dieses Mal versagte ihre Stimme. „Es tut mir leid.“
Tatsächlich konnte sie seine Züge nicht lesen und der Gedanken, ihm in seine eigenen Gedankenkonstrukte nicht folgen zu können, war neu und beängstigend. Blake hielt den Blickkontakt nicht aufrecht und verlor sich stattdessen in dem lauen Treiben auf dem Gehsteig vor dem Fenster der Bäckerei, und Sam sah, wie Wehmut eine Tiefe in das markante Seitenprofil stanzte, die Sam in ihren eigenen Eingeweiden erreichte. Körperlicher Schmerz ergriff sie, als sie Blakes Trauer nicht nur spürte, sondern auch sah.
Verzweiflung war ein konstanter Begleiter in den letzten Tagen gewesen; die Tatsache des Voneinanderwegdriftens eine scheinbar unausweichliche Konsequenz ihres Streits, die sie einfach mit keiner ihr gegebenen Macht auf dieser Welt aufhalten konnte. Ihn so jetzt zu sehen, riss sie aus dieser Lähmung.
Sams Hand löste sich von der Tasse und schob sich über den Tisch und suchte nicht nur, sondern griff nach der seinen, die leblos auf dem Tisch lag. Sie schlang sich um die kalte, abgearbeitete Rauheit, die unter der Wärme der Zimmertemperatur tiefrot unterlaufen war, und ergriff sie feste mit ihrer neugewonnenen Wärme. Der Gedanke, dass er seine Hände schädigen könnte, kam ihr unangebracht plötzlich – und ebenso abrupt schob sie ihn wieder beiseite.
„Es tut mir leid“, wiederholte Sam erneut, immer noch leise, aber mit mehr Nachdruck in der Stimme, wie sie hoffte. Und das tat es. So sehr. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Sie konnte es einfach nicht. Sie gehörten zusammen.
Sie waren das einzige, das in ihrer Welt Sinn ergab. Es war nicht dasselbe ohne ihn, weder ihre eigene Alltäglichkeit, noch ihr kreatives Ausleben. Er war ihr Lebenselixier mit einer ureigenen, unentschlüsselbaren Magie und das hatte sie womöglich schon in dem Moment begriffen, als sie ihn das erste Mal gehört hatte und nicht nur sah, sondern sofort verspüren konnte, was es war, das er in den Menschen, in ihr, entfesseln konnte.
„Blake“, wisperte sie flehend und hielt inne, weil sie nach einer Wortwahl fischte, die dieser Situation gerecht wurde, aber ihr kamen keine Worte und so stellte Sam nur die Tasse auf und schob auch ihre andere Hand über seinen Handrücken. Erst dann regten sich seine Finger und als das Leben in Blake zurückkehrte, umschloss er ihre Hand und ließ von dem verhangenem Wintertag ab. Er ließ seinen Kopf durchhängen, als schien er sich sammeln zu müssen, aber als er ihn dann anhob und ihn ansah, schien er gefestigter, als sie ihm in dem Moment zugetraut hätte. Er lächelte.
Schmal, aber… er lächelte. Es war ein Fortschritt.
Sams Herz vollzog einen kleinen Hüpfer und ihr Griff verfestigte sich. Sie spürte, wie sein Daumen ihre Haut streichelte. Es war Liebe, so wild und rasend, die sie ereilte, dass es ihr die Beine weggezogen hätte, säße sie nicht längst. Sie liebte ihn. So sehr. Ihr Herz pochte schmerzend und sie merkte, wie die Luft in ihren Lungen drohte, zu stocken.
Aber erst, als er sie „Wie geht es dir?“ fragte, ruhig und gesetzt, sie dabei genauestens beobachtend, aber seine Hand nicht wegzog, seine Haltung sich dabei ein wenig abspannte, erst dann erlaubte sie sich, Erleichterung in einer minimalen Brise zu erschmecken.
„Komisch“, gestand sie. „Ich… keine Ahnung. Es ist, als würde etwas in mir fehlen, obwohl nichts dagewesen ist.“
Sie vermisste es. Und Sam sah, das Blake verstand, ohne das er die Unterhaltung in eine Richtung lenkte, die sie zwang, es zu sagen, weil sie sich dem, was dann folgen würde, nicht aussetzen wollte. Sie hoffte, dass er verstand und als er es tat, war es gut, die Minuten mit ihm so schweifen zu lassen, schweigend, die Hände ineinander gelegt, spürte sie, wie sich die Energien zwischen ihnen umverteilten und als Sam eine Hand löste, um ihren Kaffee zu trinken, war das Gebräu längst kalt.
Aber das machte nichts. Sam liebte kalten Kaffee.
„Es tut mir leid, dass ich es heute wieder nicht zur Bandprobe geschafft habe.“
Er wischte sich mit dem Daumen die Reste der Zimtschnecke aus dem Mundwinkel, als er die Stille das erste Mal Durchbrach und seine Entschuldigung schaffte es, Sam aus ihren Gedanken zurück in die Bäckerei und sein Café zu ziehen und Durchschnitt einen weiteren Schleier einfach selbst. Es fühlte sich surreal an, darüber zu reden, aber es war besser. Es war vielleicht der einzige Punkt, an dem sich anzusetzen lohnte.
Für einen Augenblick erforschte Sam trotzdem seine Züge; überlegte, ob er darüber reden wollte, was ihm das Kind bedeutet hatte, ob er mit ihr über seine eigene Kindheit reden wollte, etwas, dass er doch so konstant umging, aber als ihre Iriden miteinander kollidierten, senkte sich ihr Kinn leicht und sie entschied sich entgegen.
„Du musst dich nicht immer entschuldigend.“
„Ich denke schon“, gab er dann etwas freimütiger zu und als er sich zurücklehnte, um nach seinen Zigaretten zu kramen, trennten sich ihre Hände. Sam, die ihren Scone noch nicht angefasst hatte, hob das Gebäck nun an ihre Lippen und nahm einen ersten Bissen. Es schmeckte himmlisch.
„Lass uns darüber reden. Es liegt zwischen uns, findest du nicht?“ Es war keine Frage, aber trotzdem blickte Blake sie im einstimmenden Abwarten an, als er sich die Zigarette zwischen die Lippen schob und dann mit einem Streichholz entzündete. Der Schwefelgeruch schoss ihr angenehm in die Nase. „Es stört dich, dass meine Arbeit mit den Proben kollidiert. Es stört dich so sehr, dass es uns stört. Wir kämpfen, du und ich, jeden Tag, Sam.“
„Es ist nur…“, begann sie und brach dann wieder ab. „Ich… Blake“, sammelte sie sich dann. „Ich weiß manches Mal nicht, ob dir dein eigenes Talent tatsächlich so abgeht, wie es scheint, oder ob es dir nur einfach egal ist“, Sam neigte ihren Kopf leicht zur Seite und stützte ihn in einer Hand ab und verharrte in dieser Situation. „Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich dich zuallererst auf einer Bühne gesehen und gehört und gefühlt habe, bevor wir auch nur ein Wort miteinander gewechselt haben, aber jedes Mal, wenn du bei der Probe fehlst, außerplanmäßig einen Job einschiebst dann…. Gott, es macht mich so wütend. Ich habe das Gefühl, du verschwendest dein Talent und damit dein Leben und ich… Ich würde so gerne die Lösung für dich sein.“
„Aber wer sagt, dass ich eine Lösung brauche?“ Blake hatte sich zurückgelehnt und stieß einen dichten Rauchkringel hinaus. „Ich habe mir als kleiner Junge eine Gitarre vom Sperrmüll gezogen und ich habe mir das Spielen selbst beigebracht. Es ergänzt mich nicht einfach nur, ich bin durch die Musik, Sam.“
Sie wusste, dass er es so meinte, genau so, wie er es sagte, und auch, wenn Sam protestieren wollte, schwieg sie, weil sie wusste, dass es eine Seltenheit war, diese Art von Gespräch mit Blake nicht erlangen, zu… bekommen. Er gestand es anderen nicht oft ein, sich derart über sein Leben und sein Innenleben auszutauschen. Dass er es tat, war ein Zeugnis dessen, wie wichtig sie ihm war. Das war Grund genug über ihre Widersprüche hinwegzuschweigen. Stumm aß sie weiter.
„Ich weiß nicht, wo ich wäre, wenn ich nicht die Möglichkeit hätte, dann und wann mit Leuten zusammenzukommen, zu jammen, zu kreieren und aufzutreten. Meine Jugend war Musik. Mein Umfeld ist Musik. Die Menschen in meinem Leben Musiker oder andere Künstler. Ich bin in diesem Leben und in dieser Szene genau so, wie du das auch bist, Sam, nur länger.“
„Aber was hat sich geändert? Und jetzt sag nicht, dass du erwachsen geworden bist.“
Blake lachte leise auf. „Das hat nichts mit Erwachsensein zu tun. Das Leben verändert sich einfach und man beginnt, sich anzupassen, das ist alles.“
„Aber das klingt so, als hättest du aufgegeben.“
„Als hätte ich was aufgegeben? Ich schleife mich in Bandproben, obwohl ich nach einem langen Umzugstag einfach nur in die Badewanne und ins Bett will. Ich verbringe meine Wochenenden damit, durch das County zu reisen und aufzutreten, ich habe hier regelmäßige Gitarrengigs in kleineren Pubs und Bars, dann und wann springe ich bei Freunden ein. Wir komponieren, wir songwriten. Das ist kein Hobby, Sam. Das ist ein Leben, das mich mehr definiert, als irgendetwas anderes. Aber das geht nur so, wenn ich einen Job habe. Harold hat nicht nach Noten oder Abschlusszeugnissen gefragt, als er mich eingestellt hat; er wollte einfach wissen, ob ich anpacken kann und hat mir dann eine Chance gegeben. Ich kann diese Welt nicht anzünde. Ich will es auch gar nicht.“
Es war schwer, seine Worte zu leugnen, weil sie so, derart heruntergebrochen, genau das waren: sinnig. Sie ergaben so viel Sinn, sie brachen Wahrheit um Wahrheit um Wahrheit herunter und Sam wusste und sah das und fühlte sich in diesem Wimpernschlag ihrer Zweisamkeit so unfassbar naiv – und konnte sich derer trotzdem nicht entsagen.
Er sah sich nicht, wenn er sich in seinen eigenen Welten verlor und Stunden auf dem Balkon damit verbrachte, neue Melodien und Riffe zu ersinnen; mit was für einem selbstverständlichem Geschick seine Finger selbst die verquersten und kompliziertesten Griffkombinationen vollführte und wie wenig angestrengt bei ihm alles aussah und wirkte. Er machte nicht einfach nur Musik; er war sie, in dieser fließenden und besonderen Einheit, wie sie nur ganz selten in einer Generation vorkam, Sam spürte das einfach. Es war keine Gabe, die er besaß, kein Talent – er war ein Genie, eine Leuchtfigur am jenem Himmel, den er selbst so sehr beschränkte und limitierte.
„Du gehörst aber nicht hier her“, entwich es ihr dann leise. „Du gehörst auf die Bühnen der Welt.“ Ihre Überzeugung dessen triefte in jedem einzelnen Wort. „Du… Fuck, Blake, es bringt mich noch um. Du bist gut. So sehr.“
Er lächelte warm und als er den Rauch ausblies hatte er kurz etwas von diesem Spitzbübischen, dass sie so an ihm vermisst hatte, doch so kurz es sich auch umriss, so schnell verflog es auch wieder.
„Ich will das nicht. Nicht so. Ich will nicht, dass das so zwischen uns steht. Ich meine es auch nicht böse, sondern…“ Sam lehnte sich nun in die Polsterung zurück und stieß die Luft tief aus.
„Du liebst mich einfach.“
Atemlos blickte sie an und wusste nicht, was sie sagen sollte, bis sie ein irritiertes, fast schon zu energisches und plötzliches „Ja, verdammt!“ hinausließ und danach am liebsten in einem Anflug kurzer Hysterie aufgelacht hätte.
„Aber du liebst die Musik einfach auch“, fuhr er dann fort und die Wärme, in seinem Blick, dieses Verständnis darin, ließ Sam weiter in ihrem Sitzen zusammenschrumpfen, weil es ihr einfach den Wind aus den Segeln nahm und sie nicht nur ahnungslos, sondern auch fast hilflos hinterließ. Zu mehr als einem leise gehauchtem „Ja“ fühlte sich Sam nicht imstande.
„Denkst du nicht, dass wir es schaffen könnten? Fury? Eines Tages?“
Es war eine Einschätzung, nach der es sie schon seit einer längeren Zeit dürstete. Manches Mal hatte Sam das Gefühl, das Opfer ihrer eigenen Träume zu sein; das, was sie tat, nicht mehr objektiv beurteilen zu können, weil sie zu tief, zu verkopft, zu leidenschaftlich darin steckte. Aber Blake verlor sich darin und diese Unterhaltung bestätigte ihr das wieder einmal. Doch das, was er sagte, tat weh.
„Eines Tages vielleicht.“
Es furchte so tief. Sam schluckte und verspürte sie wieder, diese Kraftlosigkeit ob dieser Differenz, die in ihren Ansichten lag und sich zwischen ihnen hochhangelte. Sie griff jetzt selbst nach ihren Zigaretten und riss sich los, aus der Intensität seiner Blicke und seiner Anwesenheit, und suchte ihr Feuerzeug, einfach das sie etwas hatte, um die Zeit zu überbrücken. Doch dann übermannte es sie und sie riss ihren Kopf wieder hoch, sah ihn wieder an, blickte ihm wieder in die Augen.
„Ich kann das einfach nicht mehr, Blake“, stieß sie dann hervor. „Ich… will einfach nicht mehr mit dir kämpfen. Ich hasse das. Ich ertrage das so auch nicht länger. Ich weiß nur einfach nicht, was ich für dich bin, in dieser Gleichung und in diesem Leben, ich habe das Gefühl… dass ich nur noch ein einziger, alles verschlingender Bestandteil deines Tages und Leben bin und…“
„Sam“, unterbrach er sie und als sich seine Hand um ihr gruschelndes Handgelenk schlang und es somit zum Stillhalten brachte, flüsterte sie, fast schon verteidigend, „Was bin ich da noch für dich, Blake?“ und brachte es kaum über sich, ihn weiterhin anzusehen. Aber sich wieder abzuwenden und in sich zurückzuziehen war auch keine Möglichkeit. Nicht mehr. Nicht jetzt. Vor allem nicht bei diesen Thema.
„Warum glaubst du denn, das ich das alles tue?“, ein Mundwinkel zuckte in die Höhe; genau dieses, dass sie damals auf der Bühne als allererstes gesehen hatte, nur weiter, reifer, bedeutungsschwangerer, nur für sie bestimmt.
„Du bist die Liebe meines Lebens.“
Eine hypnotische Fiebrigkeit überkam Sam, die ihre Welt entschleunigte. Und als Sam nach vorne ruckte und ihn an sich heranzog, näher und enger, ließ sie sie zu, die und hatte keine Acht für den Kaffee, den sie umwarf, sondern küsste ihn, als täte sie es zum allerersten Mal.

*



„Ich hoffe nur, vor lauter Nervosität vermassele ich es nicht, verstehst du? Ich… ich bin dafür prädestiniert, es zu vermasseln, wenn ich nervös werde.“ Sam tigerte zu dem kleinen Fenster der Wohnstube und ließ sich von der Wolkendecke des Himmels einnehmen, die in ihren dunkelschattierten Graunuancen die Ankunft jenes Unwetters versprach, das im Radio bereits seit drei Tagen verkündet wurde.
Levis Lachen war leichtfertig und entspannt. Sam sah über die Schulter zu ihm und beneidete ihn in diesem Moment für seine Lässigkeit, wie er dasaß, umringt von Bücherstapeln und mit einer Andacht sortierte, die er sonst nur seiner Schallplattensammlung zukommen ließ.
„Ich meine es Ernst, wenn ich das-„
„Warum solltest du es überhaupt vermasseln?“ Er zuckte die Schultern und warf seine Arme in fragendem Abwarten in die Höhe. „Das ergibt doch überhaupt gar keinen Sinn. Das läuft, wie es immer läuft. Du wirst schon sehen.“ Er zwinkerte ihr zu, als könnte etwas daran ändern und Sam schickte ihm ein abgespanntes Seufzen entgegen, bevor sie ihren Kopf wieder begradigte. Die Arme fest vor dem Körper umschlungen, brachte sie den Daumen an ihren Mund und begann unbewusst an der feinen Nagelhaut zu knabbern, nur leicht, als brächte es irgendetwas. Aber das tat es nicht. Als sie erneut aufseufzte, befreite die Schwere dahinter jene Gedanken, die sie tatsächlich hinabzogen.
„Blake hat den Umzugsjob deswegen gekündigt.“
Seit ihrer Auseinandersetzung am Jahresanfang die Angst in Sam verankert hatte, Blake zu verlieren, war sie dem Alltag mit ihm mit mehr Bedacht gegenübergetreten – denn sie hatte gemerkt, dass es möglich war, ihn zu verlieren, wenn sie zu exzessiv in ihrer Beharrlichkeit war; wenn es nur einen Weg gab, und die Möglichkeit, diesen in vollstem Wegtempo, das man erübrigen konnte. Und so sehr es manchmal gegen ihre Natur ging, gegen ihre Art, Dinge anzupacken, wusste Sam, dass es nur mit einem Mittelweg, einem Kompromiss ging und genau diese Mittelwege hatte sie zu schlagen begonnen. Es zumindest versucht. Blakes Kündigung war ein Zugeständnis an sie gewesen, Sam verstand das, ohne dass sie darüber reden brauchen, aber genau dieser Umstand war es auch, der ihre Unruhe in das Unermessliche schoss.
„Sam, ernsthaft, scheiß dir nicht in die Hosen. Es sind nur Scouts?“
„Nur Scouts?“, wiederholte sie und wirbelte ungläubigen Blickes um. „Scouts aus London“, präzisierte sie deshalb und legte ihren Kopf leicht schief. „Ich meine… Levi, das ist eine verdammt große Sache.“
„Ay“, nickte er, „und wir sind gut. Auffallen werden wir so oder so.“
„Also manchmal weiß ich gar nicht, wieso ich überhaupt nicht mit dir rede, weißt du das?“, kapitulierte Sam und schlürfte zurück zu der kleinen Küchennische, wo das Blubbern des Eintopfs bereits leichte Tomatensoßenspritzern auf den weißen Wandfliesen verteilte.
„Weil du weißt, dass ich recht habe“, flötete er fröhlich. „Ehrlich. Entspann dich. Und beiße dich nicht zu krass an der Scoutsache fest, die drei Termine zum Frühlingsfest sind viel geiler. Von sowas konnten wir letztes Jahr gar nicht träumen und jetzt sie es, die bei uns anfragen. Das ist ein Fortschritt, wenn du mich fragst.“
Sam murrte etwas unverständliches, während sie die Herdplatte runterdrehte und den Bohneneintopf mit dem Kochlöffel bearbeitete – sie waren angehangen und ein Teil davon sicherlich verbrannt, aber nach dem sie einen Löffel hinaushievte und vorsichtig daran schnupperte, es leicht anknabberte und kostete, entschied sie mit einem finalen Schulternzucken, dass es sehr wohl essbar war.
Das Levi recht hatte, stimmte natürlich, trotzdem konnte Sam die Scouts nicht einfach aus der Gleichung und damit aus dem Bewusstsein schubsen, so funktionierte ihre Welt einfach nicht. Es schrammte zu sehr an ihrem Traum entlang, als dass sie es komplett aus ihrer Wahrnehmung verbannen könnte. Fahrig strich sie sich Strähnen dunkelbraunen Haares über die Schulter, dass ihr mittlerweile lang über den Rücken wallte und krempelte dann die Ärmel ihres schwarzen Rollkragenoberteils hinauf.
Als Levi ihr von hinten eine Hand auf die Schulter legte, rechnete Sam nicht damit. Als sie erschrocken zusammenzuckte, schob er sich in seinem gelben Pullover neben sie und reichte ihr eine Zigarette. Sie wich seinem Blick aus, weil sie wusste, dass in dieser ruhigen Intensität ein Wissen lag, dem sie sich eigentlich nicht aussetzen hatte wollen, als sie beschlossen hatte, den heutigen Nachmittag bei ihm zu verbringen, aber jetzt schien es, als hätte sie doch keine andere Wahl. Er fragte, ohne Worte zu formen und er sah und erkannte nicht nur, sondern er verstand auch. Manches Mal schämte sie sich dafür, so auf ihren besten Freund angewiesen zu sein; dafür, nicht selbst dazu in der Lage zu sein, sich besser zu regulieren und zu entschleunigen. Aber Sam war es so, als verirrte sie sich jedes Mal in ihren eigenen Gedanken, waren diese erst einmal gesponnen und dann gab es kein Ausweg mehr, ohne Levi. Nicht, wenn es um dieses Thema ging.
„Es ist…“ nichts, wollte sie sagen, aber es wäre eine überflüssige, verschwendete Lüge, die alleine durch ihre Gestik enttarnt und entkräftet würde. „… Logan“, gestand sie dann leise. Sam senkte kurz den Kopf, weil sie wusste, dass dieses Thema immer ein schwieriges war und sie es tatsächlich selbst auch recht Leid hatte, aber… „Jedes Mal, wenn Blake die Möglichkeit hat, sich intensiver der Musik zu widmen, oder er sich aktiv dafür entscheidet dann… wird sein Kontakt zu Logan einfach immer… enger und enger, ich glaube, anders kann ich es nicht beschreiben. Und ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll.“
„Hast du mit Blake schon mal darüber geredet?“
Sam warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Warum nicht? Wegen der Neujahrssache?“
Sam nickte stumm und war froh, dass diese Antwort Antwort genug war. Sie hatte nie mit ihm darüber geredet, auch mit Bradley nicht, obwohl beiden nicht entgangen war, das etwas losgewesen war, mit Sam und Blake, in den kalten Winterstürmen, die nahezu jedes Leben aus der Küstenstadt vertrieben und vielleicht auch zu viel Kälte in ihrer aller Herz gelassen hatte. Aber Sam dachte, dass er sehr wohl vermutete und damit sicherlich nicht zu arg daneben läge; dazu kannte er sie zu gut. Auch Blake, schätzte sie.
Sie führte die Zigarette, die er ihr gereicht hatte, an ihre Lippen und lehnte sich mit dem Rücken an den Herd, eine Hand dabei auf die Kante abgestützt. Ihre Fingerspitzten trommelten kurz auf und ab, als hadere sie mit dem letzten Bisschen Wahrheit in sich selbst. Doch mit dem Ausblasen des Rauches, entließ Sam auch ihre Angst. Sie war in Gesellschaft Levis fehl am Platze.
„Wenn er mit Logan zusammen ist, ist er an einem Ort, an dem ich ihm nicht folgen kann. Hier oben“, sie tippte sich kurz an ihre Schläfe, „ist er auf einmal weg und ein Fremder, mit dieser urplötzlichen und unerwarteten Kraft. Manchmal erkenne ich ihn nicht wieder. Es macht mir Angst, ohne dass ich wirklich begründen kann, wieso. Es ist…“, sie schüttelte den Kopf. „Als könnte ich in das, was ihn mit Logan verbindet, nicht einbrechen. Nie. Verstehst du? Als... als wäre nur Logan dazu in der Lage ihn in seinem ganzen Sein zu erfassen, während ich mir andauernd die Frage stellen muss, ob ich ihn überhaupt richtig kenne, oder ob für mich ein Teil seiner Seele immer in den Schatten liegt und ich ihn nie ganz ergreifen kann. Ich… mache ich Sinn?“ Sam rang nach Worten und nach einem Lächeln, beließ es aber dann dabei und rauchte weiter; ließ das Nikotin das vollenden, was Levis Worte herbeizuführen versucht hatten.
„Ich glaube, das bildest du dir nur ein“, antwortete er dann und er lachte, als er das tat. Sam schenkte ihm einen kurzen Seitenblick, aber Levi machte sich nicht über sie lustig. Stattdessen griff er nun nach den Essschüsseln und begann, sie mit dem Eintopf aus Tomaten und Bohnen zu befüllen. Es lag Wissen in seinen Augen, während er sein eigenes Treiben verfolgte, war in Gedanken bei ihr, wusste sie.
„Es ist… Blake ist schwierig, Sam“, erklärte er dann. „Du bist seine Freundin und siehst das vermutlich aus einer anderen Perspektive, weil du ihn auch nicht anders kennst, aber er ist schwierig, und er hat einen Shitload an Mist hinter sich. Er hatte es immer schon einen Zacken schwerer als alle anderen Menschen in seinem Leben und das hat einfach viel mit ihm gemacht. Mit seinen Alten, mit seiner kleinen Schwester, weißt du. Er ist ein genauso harter und sturer Brocken, wie du, ihr passt da ganz hervorragend zusammen, glaub mir. Ich denke nicht, dass es jemanden gibt, der richtig weiß und versteht, was in ihm abläuft.“
„Bis auf Logan“, murmelte Sam, die in einen alten Kaffeebecher abaschte und dann die Zigarette ausdrückte. Levi reichte ihr den Teller schweigend und auch dann, als sie sich an dem kleinen, abgenutzten Küchentisch niederließen, an dem kaum Platz für zwei Personen war, in dieser Enge, schwieg Levi immer noch. Sam fühlte sich seltsam geknickt und suchte kurz seinen Blick. Levi lächelte schmal. Matt. Dann schüttelte er aber den Kopf.
„Ich denke nicht. Also, ich kann es mir nicht vorstellen. Blake ist nicht der Typ, der gerne viel teilt und Logan ist nicht der Typ der nachhakt und bedrängt. Logan ist einfach extrem empathisch und ich weiß, dass du das immer besonders ungerne hörst, weil du ihn nicht leiden kannst,“ er hob bezeichnend den Löffel, eher er ihn in der Bohnenmasse versinken ließ, „aber er hat ein krass feinsinniges Gespür für seine Mitmenschen und ich glaube, dass er alleine deswegen durch Blakes Barrikaden stößt, ohne irgendetwas tun zu müssen. Er tut es einfach. Das ist das, was Blake braucht. Nicht nur, ab und an. Sanftheit“, er malte das Wort in seiner Aussprache beinahe und anstatt zu essen, legte Sam den Löffel auf ihrem Teller ab und bettete ihr Kinn in der offenen Hand. Sie erlaubte es sich ihren Blick schweifen zu lassen, aber da waren keine Gedanken mehr, die sich auftun wollten oder die sie zu denken in der Lage war. Da war einfach nichts, dass sich in ihr auf seine Worte regte, vielleicht auch deshalb, weil etwas in ihr genau wusste, dass Levi eine unabänderliche Wahrheit äußerte; eine, die sie längst kannte, aber vielleicht nicht hatte bezeichnen können, weil ihr der Horizont, der Einfluss von außen fehlte.
„Du bist oft zu hart“, fuhr Levi fort, und es lag keine Anklage in seinen Worten, was es etwas besser, aber nicht tröstlicher machte. „Sehr oft. Du musst da aufpassen. Blake ist zerbrechlich.“
Blake ist zerbrechlich.
Die Ruhe, die in der Äußerung seiner Sätze lag, veranlasste Sam beinahe dazu, nachzufragen. Nach Blakes Familie, nach den Eltern und der Schwester, von denen sie immer nur von anderen hörte, aber nie von sich selbst, entschied dann aber, das Thema sein zu lassen; das war nichts, das sie mit jemanden abseits Blake besprechen wollte, wusste sie. Trotzdem hatte sie sich nie getraut, dieses Thema anzusprechen, denn sie hatte mitbekommen, was geschah, wenn andere es taten. Bradley oder auch Alexis. Sah, wie es einen Funken aus seinen Augen nahm, den er zum bewältigen des Alltags benötigte; sah, wie er sich danach einigelte, nur mit einer Flasche Whiskey, Zigaretten und seiner Gitarre, stundenlang, ohne Achtung für sein Umfeld, oder gar sie.
„Ist okay“, sagte Sam dann, etwas leiser. „Ich gebe mir Mühe. Mehr Mühe“, betonte sie und entlockte dabei wieder ein Lächeln, das die Schwere dieser Unterhaltung kategorisch und entschieden von sich wies.
„Und jetzt iss“, betonte er grinsend, „und hör auf, dir Sorgen zu machen. Das Frühlingsfest wird großartig, alle werden das, ich meine, Hallo, die Küste wird beben, nichts ist klarer als das“, Levi zwinkerte. „Und drauf geschissen, dass Blake heute mit Logan um die Häuser zieht. Interpretier da nicht immer so viel rein, sie sind Freunde, langjährige und Logan hat ihn einfach in einer Zeit kennengelernt, in der sein vergangenes Leben noch sehr an ihm gehaftet hat. Außerdem hilfst du mir, meine beachtliche Literatursammlung zu sortieren und ich kann mir Weiß Gott nichts Spannenderes vorstellen, als seinen Nachmittag so zu verbringen.“ Er fuchtelte bezeichnend mit seinem Löffel in der Luft herum, ehe er sich breit grinsend einen weiteren Löffel in den Mund schob.
Sam erlaubte sich das Anheben einer Braue, aber sie schmunzelte und blickte, nicht ganz überzeugt, zu dem Bücherstapel, der sich durch das komplette Ein-Zimmer-Apartment Blakes zog.
„Hey, hör auf mich zu verurteilen.“
„Tue ich doch gar nicht!“, protestierte sie lachend und griff eilig nach ihrem Löffel.
„Klar. Sehe ich doch. Dir täte es auch mal wieder gut, ein Buch in die Hand zu nehmen, weißt du. Erweitert nämlich den Horizont.“
„Ach nein?“
„Doch, doch, glaube mir.“
Sam demonstrierte ihm den Mittelfinger, bevor sie sich den Löffeln in den Mund steckte – und damit selbst ein Lachen erstickte, das kam, einfach so, und ebenso befreite, wie erleichterte.
Als das Unwetter sich über Lytham ergoss und die Schwärze des aufgebrachten Meeres in den Regenschlieren verschwamm, schmetterten sie Schallplatten, über denen sie sich verloren und bestückten Levis neue Regalwand mit einer akribischer Ordnung, die Sam neuen Lesestoff ins Auge rückte und auch Sam nochmal vor Augen zog, wie belesen Levi tatsächlich war und wie unerwartet sie das jedes Mal traf, diese Tiefe an ihm, die doch allgegenwärtig verankert war.
Auch in ihr.
Wie immer, wenn sie mit Levi zusammen war, hatte sie das Gefühl, eins mit ihm zu sein und dieses Gefühl war es, dass sie so sehr beseelte, dass sie alles um sich herum und vor allem in sich selbst vergaß.
Sam nahm sich nicht nur Achtung gegenüber Blake, sondern auch gegenüber Levi vor. Sie wusste, dass sie schwierig war, aber Sam wusste auch, dass sie eine schwierige Freundin war, die Menschen wie einen Levi aus einer Grundüberzeugung heraus nicht verdient zu haben schien – aber auch, dass es da diesen Part in ihr gab, jenen, der egoistisch genug war, um nicht gehen lassen zu wollen. Um festzuhalten.
Als sie später am Abend in dem Dämmerlicht zu alter Lampen das fertige Werk ihrer Sortieraktion begutachteten, legte Sam den Kopf auf Levis Schulter und betrachtete zufrieden die Regalreihe und sah nicht nur, sondern fühlte, wie der Charakter jener Welten hinter den Buchdeckeln auf das Zimmer übersprang und aus dem kleinen Zimmer über einer alten Buchhandlung einen Hort machten, der sich nicht nur wie Zuhause anfühlte, sondern Zuhause war.
Sie entschloss, zu übernachten.


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Verfasst: Di 14. Nov 2017, 10:33 


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