Kurze Kontextualisierung für Verena, da alles drum und dran ja erst nachgereicht wird: Carlotta „Carli" Kiesinger lebt mit ihrem Vater Sebastian und ihrer Mutter Veronika in Berlin. Ihr angeheirateter Onkel Jake und seine beiden Söhne Sam und Thomas, seine Kinder aus erster Ehe, sind vor vier Jahren zurück nach Amerika gegangen, um die alte Farm von Jakes Vater wieder aufzubauen, als Jakes Frau Elisabeth, Sebastians Schwester, starb. Carli, die eine ganze Kindheit mit Sam und vor allem mit Thomas teilt, wird den Sommer auf der Farm der Strands in South Carolina verbringen, ehe sie im Herbst ihr Jurastudium in Berlin beginnt. Doch die Strands sind keine glückliche Familie, und schon bald muss Carli erfahren, dass sie es nie gewesen sind.
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Summertime Sadness


Thomas Strand ist nicht sein Vater. Carli weiß das. Doch das ist nicht genug.


Prolog



„I promise you, these storms are only trying to wash you clean.“


„Und was, wenn wir uns überhaupt nichts mehr zu sagen haben?“ Carlotta Kiesinger gräbt die Zähne in ihre Unterlippe, so, wie sie es immer tut, wenn sie zu viel über etwas nachdenkt. Sebastian gibt einen prustenden Laut von sich und wirft seiner Beifahrerin einen wenig überzeugten Seitenblick zu. „Ihr hattet euch schon viel zu sagen, als ihr noch nicht mal sprechen konntet“, entgegnet er und lacht auf, als die Erinnerung an die Kindheit seiner Tochter seinen Blick verschleiert. Der Regen, der sich in Form von winzigen Tropfen über die Windschutzscheibe des Mazda ergossen hat, färbt sich blutrot, als die Ampel vor ihnen zum Bremsen auffordert. „Ihr habt als Kleinkinder auf der Krabbeldecke nebeneinander gelegen und pausenlos vor euch hin gebrabbelt.“ Er zwinkert Carlotta zu, als sie eine Grimasse zieht. „Keine Sorge, Carli, Thomas und du werdet euch blendend verstehen. Das habt ihr schon immer.“
Carli seufzt. Sie lehnt den Kopf gegen den Sitz und sieht zu, wie sich der Verkehr, der die Berliner Innenstadt verstopft, wie zähflüssiger Schleim vor ihnen dahinzieht.
„Wo wollen die eigentlich alle hin?“ Sebastian schüttelt den Ärmel seiner Jacke zurück, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. Es ist der Morgen des vierten Mai, ein nebliger Montagmorgen in der Großstadt, von der Carli die nächsten sechs Monate nicht allzu viel vermissen wird, doch das nimmt ihr die Nervosität nicht. Eher im Gegenteil. „Und was, wenn Jake und Sam-“
„Carli.“ Sebastian verkneift sich ein amüsiertes Grinsen und legt eine Hand auf ihren Oberschenkel, während er den Mazda mit einem Ruck wieder anfahren lässt. „Du wirst ‘ne tolle Zeit bei deinem Onkel und seinen Jungs in Amerika haben, okay? Komm‘ schon, seit du dein Abitur hast, freust du dich auf diesen Sommer. Das wird klasse.“
„Ich hab‘ sie vier Jahre nicht gesehen.“
„Umso schöner, oder?“ Er zuckt mit einer Schulter. „Hör‘ zu, wenn du 5 Monate South Carolina gegen 5 Monate Zivilrecht in der Fakultät eintauschen willst, musst du‘s nur sagen.“
Carli schnaubt und schüttelt seine Hand ab. „Ich werd‘ mich schon früh genug in deinen Hörsaal setzen, Papa“, entgegnet sie und zieht das Flugticket aus ihrem Rucksack. Nachdenklich dreht sie es in den Händen und nimmt einen tiefen Atemzug, um das schnelle Herzklopfen in ihrer Brust zu beruhigen. Sebastian grinst. „Oktober, Töchterlein, Oktober. Aber bis dahin hast du dir eine Auszeit verdient, findest du nicht?“
„Ja, vielleicht.“

Das Gefühl der Beklommenheit lässt sich nicht abschütteln, als Sebastian den Wagen über die Geschwindigkeitsbegrenzung der Flughafenschleuse rollen lässt und das Parkdeck für die Kurzzeitparker anpeilt. Als der Motor verstummt, füllt die Stille Carlis Ohren aus wie Watte. „Meinst du, Mama schafft es, rechtzeitig hier zu sein?“, fragt sie, als sie aussteigen und der Flughafenlärm einsetzt, als habe jemand auf die Play-Taste gedrückt. Sebastian hievt ihren Koffer aus dem Wagen und schließt ab, dann legt er einen Arm um Carlis Schultern und zieht sie mit sich Richtung Eingang. „Versprochen. Sie hat extra schon am Freitag im Büro Bescheid gesagt, dass sie dich heute verabschieden muss. Hey.“ Als er ihr Gesicht sieht, runzelt er die Stirn. Sein Arm auf ihren Schultern ist schwer wie Blei. „Wenn es dir nicht gefällt, kommst du einfach früher wieder zurück, alles klar? Dann buche ich dir einfach einen Rückflug und-“
„Schon gut, Papa.“ Carli lächelt ihm zu, als sie sich in der lärmenden Eingangshalle des Flughafens in den Wartebereich quetschen. „Ich krieg‘ das schon hin.“ Bevor Carli noch etwas hinzufügen kann, steigt ihr der blumige Duft des Parfums ihrer Mutter entgegen, und Veronica Kiesinger fällt ihr um den Hals, als sie sich in ihr Blickfeld schiebt. „Hab‘ mich extra wahnsinnig beeilt“, schnauft sie und lässt Carli los, um auch Sebastian schwer atmend an sich zu drücken. Dann huscht ihr Blick zur großen Uhr über den Schaltern, ehe er sich wieder Carli zuwendet. „Wir sollten zum Gate und dein Gepäck wegbringen, oder?“

„Pass‘ auf dich auf und ruf‘ an, wenn du angekommen bist, ja? Und grüß‘ Jake und die Jungs von uns! Oh, ich hab‘ dich lieb, Carli.“ Veronica drückt Carli abermals an sich, als sich ihre Wege am Zoll trennen. Kurz schnürt es ihr die Kehle zu, als sie ihre Eltern ein letztes Mal in die Arme schließt, doch als sie durch die Zollschranke geht, ihren Rucksack wieder schultert und Sebastian und Veronika winken sieht, ehe sie hinter der Biegung verschwindet, fühlt sie sich seltsam leicht. Vor ihr liegt ein ganzer, langer Sommer in South Carolina.