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 Betreff des Beitrags: Kapitel 01
BeitragVerfasst: Do 13. Jul 2017, 19:50 
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Registriert: Di 30. Mai 2017, 07:06
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KAPITEL EINS


Das stete Rauschen der Wassermassen, wie sie sich in den Strand graben, und immer ein Stückchen mehr mitnehmen, als dass sie zu geben bereit sind, ist mehr, als nur ein Wiegenlied. Das tosende Donnern ihrer Wellen, windgepeitscht und unerlässlich, wie sie gegen die Steilklippen graben, sich immer und immer wieder mit einem Zorn daran zerwerfen, deinem eigenen ähnlicher, als du denkst.
Das Meer und du, ihr seid eine besondere Liebesgeschichte, Sam. Und so, wie es dich einst immer an deine eigene Mutter erinnerte, und deswegen Liebe und Furcht gleichermaßen in dir verankerte, erinnert es mich heute an dich. Ich höre deine Stimme darin und sehe deine Silhouette in dem weitentfernt liegenden Strich, der die Grenzen zum Horizont mit dem dunklen Schimmer des Wassers vermengt, und erinnere mich.
Ich sehe dich windzerzaust und so jung, mit einer Härte, die niemand dieses Alters haben sollte, und sehe darin deine eigene Stärke; dieses wilde, ungebändigte Ding, das du nie richtig verstanden hast.
Aber eine andere Wahl, als stark zu sein, hattest du nie.
Man gab sie dir nicht.
Seit dem Moment, an dem deine Mutter dich vorschickte, um zu klingeln, aber nicht nachkam, nie, und es die inbrünstige Abscheu gegenüber all den falschen Entscheidungen, die deine Mutter je fällte, war, die dich in einem einzigen Blick deiner Großmutter für immer traf und brannte, gab es nur diesen Weg für dich, wenn du dir je erhofftest, eines Tages frei zu atmen.
Und das hast du dir.
Jeden Tag.
Es dir erträumt.
Auch das jeden Tag ein Stückchen mehr.
Man kannte dich, weil das jeder tat, in dieser Zeit, in der es ein Skandal war, wenn der Rocksaum über die geheiligte Grenze der Knie rutschte, denn du warst das Kind, das niemand wollte. Das Kind, das man bei der Großmutter zurückließ, dieser verwelkten Schönheit einer garstigen Frau, die zu lächeln verlernt hatte, weil ihre Tochter dieser promiskuitive Schandfleck war, den jeder kannte und betuschelte.
Vielleicht hat sie dich deswegen auch so schuften lassen, als könne man dieses zweifelsfreie Erbe aus dir heraustreiben, in dem man dich beschäftigte und dich rackern ließ, auf den Knien und mit schwieligen Händen, während andere Kinder ihre hitzeverschwitzten Körper im kühlen Nass abspülten.
Man hätte dir ein Maß an Gebrochenheit immer attestiert. Hätte über allen Schikanen, die man über dich verhängte, trotzdem darin eine gewisse Tragik gesehen und irgendwann hätte man dich in Frieden gelassen. Spätestens, wenn ihr Leben weiterhin in diesen aufstrebenden Bahnen verlief, während man dir weiterhin den Kochlöffel über den Rücken zog, weil man dich beim Singen erwischte; beim Durchblättern von Katalogen und dem sehnsüchtigen Innehalten bei allem, was die Farbe Rot beherbergte.
Aber es war nicht da, dieses Maß, diese Gebrochenheit.
Sie fehlte bei dir. Immer.
Als ich dich zum ersten Mal sah, hast du gekämpft. Und in diesem Strudel aus umherfliegenden Haaren und geballten Fäusten lag die Essenz deines Charakters, deines Wesens, entblößt und klar für jedermanns Verständnis frei zu lesen.
Ich weiß nicht, ob sie es sahen, Sam. Aber ich sah es, dieses Ungebändigte und es erwischte mich mit dieser besonderen Wucht, denn man erwartete so etwas in dieser Blase kleinstädtischer Gepflogenheiten nicht. Nie.
Sie verunsicherte mich deshalb für diesen einen Moment. Auch die anderen.
Aber während die anderen Schritte zurücktraten und sich von dir abwandten, sich absichtlich vor dir verbarrikadierten, dem Sinnbild all dessen, was nicht zu sein hatte, schaffte ich es nicht, meinen Blick abzuwenden. Abzulassen.
Von dir loszulassen.
Denn da lag mehr in diesen sturmumtosten Augen. Mehr wie Abscheu, Hass und Konfrontationsbereitschaft.
Ich erkannte darin Einsamkeit.
Und sie erinnerte mich an mich.


*



„Gesundheit, Miss Wilmerton! Passen Sie etwas auf sich auf. Nicht, dass Sie sich noch etwas einfangen! Diese Küstenwinde, im Moment…“
„Keine Sorge, Mr. Henley“, das Lächeln in der Stimme war überpräsent und nicht zu überhören, „ich bin nur allergisch gegen Dreck.“
Sam spürte das hämische Lächeln Archies, noch ehe sie es hören konnte; wie eine Bewegung, die man aus den Augenwinkeln eher erahnte, bevor man sich ihrer konkret bewusst wurde. Sam hätte am liebsten mit den Augen gerollt. Geschähe das hier zum ersten, zum zweiten oder gar zum dritten Mal, hätte sie ihrer Mitschülerin vielleicht noch ein paar Punkte für ihre Dreistigkeit zugesprochen, diese Scheiße vor ihrem Lehrer abzuziehen. Aber es geschah zum unzähligsten Mal. Zu oft, als dass sie noch darüber lachen oder es beiseiteschieben könnte.
Sams Hände verkrampften sich um die Tür des Spints und für einen kurzen Moment war er da, dieser Kampf mit der Selbstbeherrschung, denn sie wusste, dass es das nicht wert war. Doch es war Archies Auflachen, dass sie aufrieb, hämisch und schikanierend und ihr diese Dunkelheit in die Iriden trieb, die Sam nicht ignorieren würde. Nicht heute. Er hatte kein Recht zu lachen. Wenn jemand das nicht hatte, dann Archibald Sanders.
Als Sam die Spinttüre zuknallte, begegnete sie dem grobschlächtigen Mitschüler mit einem Hass in ihren Augen, den sie gerne selbst ergreifen und über ihn bringen würde, könnte sie es nur.
„Was du eigentlich zu lachen hast, Sanders? Immerhin hat sie dich immer noch nicht rangelassen. Geht lieber vor Brian auf die Knie, als dass sie sich je mit dir abgeben würde.“
Sam machte sich keine Mühe mit Rosie, das machte sie prinzipiell nicht mehr, denn Rosie war eine überprivilegierte, faule und dumme Schnepfe, welche ihre Mitschüler die Prestige spüren ließ, die sich ihr Vater erarbeitet hatte, aber Archie wollte sie seine dumme Visage polieren. Archie, dem Bäckersjungen, der meinte, er würde eine Chance bei ihr haben, in diesen Anbiederungsversuchen, wenn er nach Zuckerguss und Mehl und altem Schweiß stank, da er von seinem Vater mitten in die Nacht in die Backstube zitiert wurde, ganz so, wie man Sam nachmittags auf Holzdielen und auf die Knie zitierte.
Sie waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, sie und er, und Menschen wie Rosie könnten ihnen ferner nicht sein – und es wurde Zeit, ihn spüren zu lassen, was mit Menschen wie ihnen passierte, wenn sie nach zu hoch hängenden Früchten angelten.
„Meinst du, wenn du ihr mit dummen Sprüchen den Rücken stärkst und überall hinfolgst, wie ein Straßenköter, verbessert das deine Chancen?“ Sams Augen waren kalt, als sie sprach – ihre Stimme sowieso. Und obwohl in Rosies Augen etwas Furioses trat und sich die Schärfe darin in ihre Person bohrte, schenkte Sam ihr keine Beachtung. Nur Archie, mit seinem ausladenden Kinn und seinen großen Pranken, schaute sie entgegen, nahm den immer abweisenderen Blick auf; beobachtete, wie sein Kinn sich verhärtete.
„Wusstest du nicht, was? Jeder, der Augen im Kopf hat, weiß das. Aber offensichtlich nicht du“, Sam begann, näher zu treten, Schritt für Schritt den Schulkorridor zu überwinden und auf Archie zuzulaufen, „Nicht der dumme, naive, blinde Archie.“
Sam schnalzte mit der Zunge, das Geräusch ebenso ein Peitschenhieb wie das präzise Betonen ihrer Worte, aber Sam könnte nicht gleichgültiger sein. Nicht jetzt.
„Du passt besser auf“, blaffte Archie sie an, doch Sam lachte ihm nur ins Gesicht.
„Sonst was?“
Doch Archie wich nicht mehr länger zurück, ballte stattdessen Fäuste, begradigte seinen Rücken und schob eine Hand vor Rosie, um ihr mitzuteilen, dass er sich hierum, um Sam, schon kümmern würde. Um die Hurentochter, den Freak; die, die man hätte abtreiben sollen, oder im Meer ertränken, weil es immerhin das einzig Anständige gewesen wäre, was ihre Mutter hätte tun können, so ohne Mittel. Ohne Mann.
„Sonst was?“, wiederholte Sam zischend, denn sie hatte es satt, so satt, und ballte selbst Fäuste und wusste, dass sie dazu bereit wäre, zuzuschlagen, müsste sie es nur.
„Niemand will dich hierhaben, Readon“, ging Rosie spuckend dazwischen und ihr Gesicht war kalkweiß vor Zorn. „Wofür überhaupt einen Abschluss? Es macht doch ohnehin keinen Unterschied, nicht bei dir. Du hast keine Mittel, eure ganze Familie hat die nicht“, höhnt Rosie weiter und Sams Augen verengten sich dabei, weil die Richtung, in die das ging, so überdeutlich war, „deine Großmutter ist genauso alleine, wie deine Mutter das war. Ein billiges Bed’n’Breakfast ist alles, das du je haben wirst und du kannst froh sein, wenn irgendwann irgendein Typ sich mal von dir seine Schuhe im Hausflur abnehmen lassen wird-„
Ihre Faust flog, noch bevor Sam richtig nachdachte; ein „Du elendes Miststück“ auf ihren Lippen, denn jetzt war Rosie endgültig zu weit gegangen. Vor Sams Augen rasten die Beleidigungen des letzten halben Jahres auf und ab und verdichtete sich zu einem roten Schleier, der sie das aufspritzende Blut aus Rosies Nase nicht realisieren ließ.
Gebrüll entartete, als Sam ihren Rucksack wegschmiss und sich auf Rosie stürzte, sie dabei an ihren dämlichen Locken packte, auf die sie so stolz war und sich in die Kopfhaut krallte. Alles, was sie dabei sah, waren geweitete Augen und die kläglichen Versuche, sich gegen Sam zu wehren, die ihr entgegenflüstern wollte, dass sie jetzt sehen würde, wozu die dürre Schlampe wirklich fähig war.
Sam holte aus, schwor sich, dass sie Rosie diesen Moment auf ewig schmecken lassen würde, ganz gleich der Konsequenzen, doch irgendwer packte sie, riss sie weg und donnerte sie gegen den Spint, der sich mit betonener Wucht in ihre Wirbelsäule schlug. Sam atmete stockend aus, versuchte, das Schwarz vor ihren Augen, diesen Schmerz, wegzupressen, aber Archies Wut fegte schon über sie hinweg und schob sich ihr ins Gesicht.
„Ich werde dir zeigen, wo du hingehörst“, knurrte er und packte sie an den Haaren und begann, sie mit sich zu zerren, doch Sam hatte nicht vor, kampflos zugrunde zu gehen; würde nicht leicht in den Toiletten landen, zu denen er sie gerade zog, um ihren Kopf zu spülen, wie er das so gerne mit anderen machte, die nicht nach seiner Pfeife tanzten. Sam schlug um sich und trat, stemmte ihre abgelaufenen Turnschuhe auf den Boden, aber es nützte nichts. Archie war stärker, der Boden zu glatt und die Toiletten waren nicht mehr weit. Verbissen dachte Sam sich für einen Moment, dass sie dann wenigstens schon alles mitgemacht hätte. Kaugummi im Haar, Müll in ihrem alten Schulranzen, blutige Binden in ihren billigen Sportschuhen. Dass sie sich jetzt wahrscheinlich in Archies Toilettenbehandlung einreihte, darauf schiss sie – denn Sam hatte sich geschworen, eine Grenze zu haben. Und diese Grenze war ihre Grandma, diese Hexe, die ihr alles gegeben hatte, was sie besaß und da sie sonst niemand wollte; da es sonst ein Staatssystem wäre, dass sie erwarten würde, war dieses Bisschen ihre ganze Welt.
Und Sam ließ nicht zu, das man ihr das zerstörte.
„Lass sie los.“
Sam merkte zu spät, dass Archie stoppte und weil er seine Faust gnadenlos in ihre dunkelbraunen Haare gekrallt und nach unten gezogen hatte, waren zerschlissene Hosen alles, das sie sehen konnte.
„Verpiss dich, Delaney“, verlangte Archie, doch die Füße bewegten sich nicht, keinen Millimeter und Sam war es eher so, als verlagerten sie ihr Gewicht, um genau dort zu bleiben, wo sie standen.
„Alter, ich habe gesagt, dass du sie loslassen sollst.“
„Willst du mir drohen? Du?“
„Find’s raus.“
Die Stimme klang zu lässig, um wirklich entspannt zu sein, merkte Sam, doch Sam hatte keine Lust ihr Schicksal in die Hand eines Fremden zu legen. Als sie merkte, dass sich Archies Aufmerksamkeit auf den Kerl vor ihr konzentrierte, nutzte sie den Moment und entriss sich ihm. Archie knurrte ungnädig, als sie leichtfüßig zur Seite sprang und machte Anstalten, ihr nachzuhechten, doch die Beine stellten sich zwischen sie und Archie – und Sam erkannte den Neuen. Erkannte Levi Delaney, den Typen, den man mindestens ebenso sehr mied, wie sie.
„Verpiss dich“, wurde Levis Stimme leiser und obwohl er kleiner war, so deutlich kleiner, lag in seiner Stimme keine Spur von Angst, sondern Etwas, das drohend genug war, um Archie einen entnervten Laut zu entlocken; um Archie sogar zurückweichen zu lassen. Rosie war längst an seinem Arm und schmiegte eine Hand um den muskulösen Bizeps, bevor Archie es sich nochmal überlegen konnte – für sie, einen Blowjob. Für Prestige. Für das erbärmliche bisschen Mehr, dass er unbedingt erlangen wollte.
Vollidiot.
So ein elender Vollidiot.
„Lass gut sein, Archie.“ Rosies Nase blutete noch leicht, das Taschentuch, das sie sich davorhielt, war blutgetränkt. Sie tupfte vorsichtig und klang nasal als sie sprach, aber ihre Blicke waren erdolchend bösartig und verrieten Sam, dass das hier nicht vorbei war. Egal, was es war, in dieser Scharade, die schon so lange gespielt wurde. Sam wollte ihr vor die Füße spucken, als sie mit Archie brodelnden Blickes entschwand, aber sie ließ es. Stützte sich stattdessen auf den Oberschenkeln ab und atmete durch. Tief. Ein und aus.
Versuchte das Hämmern in ihrem Kopf zu vertreiben, als ließe sich damit auch der Schmerz tilgen.
Sie spürte etwas Nasses auf dem Kopf; könnte schwören, dass dieses Arschloch ihr nicht nur Haare, sondern ganze Büschel entrissen hatte. Trotzdem keimte es hoch, dieses absurde Lachen, dass ihre trocken, regelrecht abgehackt über die Lippen kam.
„Scheiße, man. Du bist ganz blass. Braucht du ein Glas Wasser, oder so?“
Als Sam aufsah, waren es braune Augen, die ihr in all ihrer Sorge begegneten und die Aufrichtigkeit, die ihr darin entgegenschlug, irritierte Sam ausreichend, um ihr für einen Moment die Sprache zu verschlagen. Sie blinzelte. Murmelte „Du bist ja immer noch da“, weil es das einzige war, das ihr gerade kam. Sam kam sich danach blöd vor, hatte aber keine Kraft, es zu revidieren oder sich dafür fertigzumachen.
„Komm schon, bist du okay?“
Sam richtete sich wieder auf und nahm die Hand, die er ihr anbot, nicht an. Sie nahm aber wahr, dass sie beringt war; das da Nietenarmbänder am Handgelenk rutschten. Und als sie dastand, an die Wand gelehnt und das Kinn angehoben, sah sie ihn zum ersten Mal an, diesen Levi Delaney.
Vielleicht hätte ihr Klassenkamerad lächerlich ausgesehen, mit diesen blondierten Haaren, die am Ansatz bereits rauswuchsen und nicht ganz zu dem Typ passen mochten, mit seinem schwarzen T-Shirt, den kaputten Jeans und den Schuhen, die ebensolche Löcher hatten, wie ihre, aber er tat es nicht. Levi wirkte so lässig, so im Einklang mit sich selbst und strahlte dabei ein Selbstbewusstsein aus, das Sam sofort nach seiner Quelle hinterfragte, als sie es bemerkte.
Trotzdem lag da irgendwas in den Augen, das sie dazu bewog, den Blick nicht halten zu können. Sie sah zur Seite; schaute, wo sie ihren Rucksack hatte fallen lassen.
„Suchst du den hier?“, er lächelte, grinste fast schon, vielleicht weil so überdeutlich klar war, dass sie das tat und schob ihr den alten Stoff in ihr Blickfeld.
„Musst du nicht irgendwo sein?“, fragte Sam und es war ihr egal, wie sehr diese Antwort nach einem Konter, nach Misstrauen klangen. Levi blieb davon unbeeindruckt und als Sam die Hand nach ihrem Rucksack in seinen Händen ausstreckte, gab er ihr diesen tatsächlich zurück.
„Nur in Chemie. Wie du siehst, habe ich jede Zeit dieser Welt. Wenn du also was trinken magst, oder diesem Loch hier für heute sogar den Rücken zukehren magst… Ich bin dabei.“
Sam kam nicht um ein Lächeln umhin, und es erklomm ihre Lippen so heftig, dass es sie selbst überraschte.
„Chemie ist also nicht so dein Ding, hmn?“, ihre Lippen schürzten sich im zunehmenden Amüsement. Und Levis Grinsen wurde nur breiter. „Meins auch nicht. Aber wir machen dieses Jahr unseren Abschluss, deshalb…“
„Dann setz dich wenigstens neben mich. Ich ertrage das alleine nicht länger.“ Levi neigte seinen Kopf schief und in seinem Blick lag nicht nur etwas Neckendes, es lag eine Einladung, eine… Forderung.
Eine Bitte.
Sam hielt inne. Dann aber war sie sich der Tatsache, dass sie nichts zu verlieren hatte, weil es dahingehend in ihrem Leben nichts gab, unnatürlich gewahr.
Niemanden.
Und das tat weh, gestand sie sich ein. Manchmal. Aber an Tagen wie diesen besonders.
Die Antwort war deshalb dieses Mal leicht.
„Okay.“


*



Sie hatte es aufgegeben, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen und Sam genoss stattdessen das Streicheln ihrer Spitzen auf der empfindlichen Haut ihres Gesichtes, während sie im Takt der Winde umhertanzten. Über das Geländer gelehnt, führte sie die Zigarette an ihre rot geschminkten Lippen und nahm einen tiefen Zug, den sie eine Weile in ihren Lungen behielt, bevor sie das bläuliche Grau hinaus in den wolkenverhangenen Himmel schickte, der Gewitter versprach.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Sam verbot sich ein Lächeln und reagierte aus einer gewissen Absicht heraus nicht. Mit dem weiteren, langen Zug, erzeugte sie damit genau die Wirkung, die sie haben wollte – er gesellte sich zu ihr.
„Was siehst du da hinten nur immer?“, fragte Levi und als sich darauf seine Silhouette neben sie an das Geländer stellte, erklomm das Grinsen final ihre Züge und Sam schob ihre Hand unter ihr Kinn, um sich aufrechter abzustützen.
„Kann mir nicht helfen“, verteidigte sie sich, „Wie ein Magnet. Es beruhigt so sehr. Immer. Vielleicht ist das ja auch sowas wie ein Urinstinkt, der sich in uns verankert hat, meinst du nicht?“
Das Meer.
Sam sprach selten darüber, weil es in ihrem Leben in Blackpool so offensichtlich dazugehörte und das Treiben des Seebades offen diktierte. Aber es war nicht selten, dass sie sich fragte, ob es den anderen auch so ging, in Momenten des Innehaltens, dass der Kopf und die Gedanken automatisch in die Richtung des spülenden Nass glitt, als hätte es die Antworten für alles parat. Und falls das nicht, zumindest einen Augenblick Ruhe.
Levi verstummte und lümmelte sich neben ihr in einer entspannten Pose zusammen und rauchte seine Zigarette weiter. Das Haar war mittlerweile kurz geschoren. Sam selbst hatte das schreckliche Blond getilgt und nun waren da nur noch vereinzelte, kleinere Einschnitte, die von ihren Lachunfällen zeugten, als sie ihm hier oben Strähne um Strähne mit den Klingen weggezogen hatte.
Das Schuldach war seitdem ihr Hort, den sie sich nahmen, wenn sie ihn nur brauchten; wenn der Schulalltag ihnen zu viel wurde und sie rauchen wollten, ohne dabei von den Lehrern gemahnt zu werden. Da das in letzter Zeit oft genug geschah, hatten sie sich hier oben verbarrikadiert. Störten sich nicht an den Winden, die von den nahen Ufern über das Flachdach knallten und ihnen an besonders stürmischen Tagen schonmal die Zigarette aus den Fingern rissen.
„Woodstock“, seufzte Levi und während sein Blick sich selig über dem Glitzern des nicht allzu weit entfernten Wassers verlor, war er in seinen Gedanken doch hier; fest verankert in den Klängen des tragbaren Kassettenspielers hinter ihnen. „Ich wäre nackt gewesen. Und ich wäre auf Bäumen rumgeklettert und hätte darunter geschlafen, und irgendwann wäre ich mit ein paar eingesessenen Hippies im Kreis getanzt, weil ich mir die Birne so weggekifft hätte, dass mich nicht mehr interessiert hätte, außer dieser… Einklang mit Musik und Blumenwiese. Und ganz viel nackte Frauen“, sinnierte er.
Sam lachte bei der Vorstellung daran.
„Aber stattdessen sitze ich in diesem Loche-„
„Aber wir haben hier wenigstens das Meer-„, warf sie beiläufig ein.
„… in dem wir wenigstens das Meer haben, aber nicht sonderlich viel mehr, als Meer“, er verzog das Gesicht und Sam grinste über einen weiteren Zigarettenzug, bevor sie den aufgerauchten Stummel von sich schnipste.
„Komm schon, Sam. Ich meine… Blackpool explodiert im Sommer, aber sonst ist hier nicht viel. Sonst geht hier nie viel und das ist unser Leben. Macht dich das manches Mal nicht zornig? Ich weiß, dass ich es mir so nicht rausgesucht habe. Ich meine, wer würde das schon?“, er schnaubte.
„Was soll ich vom Leben schon erwarten?“, erwiderte sie mit einem Schulterzucken, „Meine Mutter hat in den 50er Jahren unverheiratet ein Kind bekommen und mich bei meiner Großmutter geparkt, die ebenfalls alleine ist. Wir sind hier nicht in London oder Manchester. Blackpool ist ein Dorf, wenn es um solche Dinge geht. Ich kann froh sein, wenn ich es schaffe, mir später irgendwo einen Job zu ergattern, ohne, dass ich dafür einen Ehemann an meiner Seite brauche.“
Nicht, das Sam davon eine Ahnung hatte. Aber ihre Großmutter hatte klar gemacht, dass sie Sam brauchte, auch weiterhin brauchen würde und das erklärte den weiteren Werdegang für Sam eigentlich von selbst. Sie verbot es sich oft, darüber nachzudenken, was sie wollte; hatte gelernt, dass es besser war und das ab einem frühen Zeitpunkt sogar in jeden Keim erstickt.
„Ich habe mir das Gitarrespielen beigebracht, weißt du“, begann Levi dann und zog damit Sams Aufmerksamkeit auf sich, die sachte die Brauen hob.
„Was sagen deine Leute dazu?“
„Sie wissen es nicht. Noch nicht. Du weißt ja, wie sie sind.“
Sam kannte sie nicht. Aber sie wusste, was er andeutete; wusste, dass es sich nicht von dem unterschied, was ihre Großmutter so früh so deutlich über Sam verhängt hatte, nachdem sie den ersten Kochlöffel auf ihrem Rücken zerschlagen hatte und sie drei Wochen vor lauter Schmerzen kaum auf dem Rücken schlafen konnte.
„Ich bin ganz gut“, lachte er matt beschämt und gestikulierte schwach in die Richtung des Radios, wo sich das Band von den Doors einem langsamen, aber fulminanten Ende entgegenschob. „Natürlich kein Jimmi, aber wenn man sich mit einem virtuosen Genie vergleicht, hat man schon verloren, habe ich gehört.“
Sam lächelte verhalten. „Habe ich auch so gehört“, neckte sie ihn, gab ihm aber einen kleinen Ruck der Aufmunterung an die Schulter. Er reagierte nur mit einem kurzen Seitenblick, der Blick dabei ernster, als man es bei Levi für gewöhnlich beobachten konnte.
„Was ist los?“, erkundigte sie sich deshalb und als Sam ihren Körper zu ihm drehte und sich die Haarsträhnen aus dem Sichtfeld riss und hinter ihr Ohr schob, war ihr Blick mehr besorgt, als herausfordernd. Levi war ihr Freund. Der einzige, den sie hatte.
„… es ist nur… Man, Sam, ich denke, daraus kann ich was machen, weißt du? Musik und ich, das passt. Das ist mein Ding und wenn ich die Gitarre spiele, dann fühle ich mich nicht nur frei, sondern so, als hätte mich das gefunden. Es ist… mein Ding“, er gestikulierte schroff, weil ihm keine anderen Worte einfielen. „Verstehst du? Wer sagt, dass ich es nicht schaffen könnte. Blackpool ist zwar noch etwas träge, aber ich habe gehört, in Lytham explodiert die Szene. Und ich glaube, ich beiße mir tierisch in den Arsch, wenn ich es nicht zumindest versuche. Ich meine, warum nicht? Meine Noten sind nicht die besten und wenn ich mir das so ansehe, tauge ich ohnehin zu nicht viel mehr, als zum Hafenarbeiter.“
Levi verstummte, indem er einen energischen, letzten Zug unternahm und sich dann über die Stoppel seiner Haare fuhr, sein Gesicht kurz darin vergrub. Das Gitarrenriff Jimmis begann anzuschwellen und nahm der Stille den Platz, die zwischen ihnen stand und fühlte sich lauter an, als es tatsächlich war.
Es war zu ihrem Ritual geworden - zu seinem, aber auch zu ihrem. Dass sie sich um den Kassettenspieler setzten, beinahe drängten, und die Kassetten anhörten, rauf und runter, die er immer mit viel Begeisterung mitbrachte, dabei Diskografien zitierte, Bandgeschichten herunterbrach und sie in eine Welt einer Musik einführte, die Sam nur in den seltenen Momenten erlebt hatte, bevor ihre Großmutter den Radiosender wechselte. Denn es ziemte sich nicht und pflanzte dumme, übermütige Gedanken. Ganz so, wie bei ihrer Mutter und was dabei rauskäme, dass könne man ja sehen.
Sam hatte sich geschämt, als kleines Kind, den Kopf gesenkt, es gelassen und gehorcht, doch jetzt war er da, der Zorn ebenso, wie die Hilfslosigkeit darüber, denn nicht selten hatte sie schreien wollen, dass sie dabei herausgekommen wäre; was so schlimm daran war, dass sie da war. Doch jetzt hatte sie das Alter, wusste vielleicht genug, um die Antwort ihrer Großmutter zu wissen. Und sie wusste, dass sie nicht bereit dafür wäre. Nie stark genug dafür sein könnte.
Sie war kein Problem.
Und Levi der einzige, der ihr das Gefühl vermittelte.
„Es ist nicht affig“, sagte sie dann.
„Was?“
„Es ist nicht affig mehr zu wollen“, präzisierte sie dann, leise. „Es ist nicht affig, was anderes zu wollen als dass, was man vorgelebt oder vorgekaut bekommt. Es ist…“ Ja, was war es schon? Sie hatte keine große Worte dafür. Nur das, was auch in ihr steckte. Und brannte. „Ich verstehe dich, okay?“, sagte sie dann und zuckte mit den Schultern. „Und wenn du das tun willst, dann unterstütze ich dich. Ist doch klar.“
Levi starrte sie für einen Moment überrascht an, aber es hatte nichts von purem Entgeistern. Es hatte mehr…
…. mehr von Erkennen.
Sam wusste nicht, was es war, das sie ritt, doch als sie sich vom Geländer ablehnte, war da dieser Entschluss in ihr bereits so entfesselt, dass sie nicht anders konnte, als ihm zu folgen.
Das Doors Album war längst vorbei, doch es war keine Stille, die ihnen aus den Lautsprechern entgegenklaffte, sondern die sanften, aber dunklen Klänge einer einzelnen Gitarre; irgendein Cover, dass sie nicht kannte, atmosphärisch erdrückend und beflügelnd gleichermaßen und es spiegelte das wider, das in ihrem Herzen steckte und vielleicht … vielleicht lag es daran, dass sie Levi den Rücken zugekehrt hatte, vielleicht aber auch daran, dass es diese Art von Musik war, die sie nie losriss, weil es etwas Altes, so tief in ihr verankert berührte.
Aber als der nächste Akkord geschlagen wurde, teilten sich Sams Lippen.
Am Anfang war es mehr ein Summen, ein Herantasten an die Melodie, doch als sie sich darin fand, traute sie sich. Und es war nicht schwer, sich zu finden. Das war es nie. Dazu kam es zu natürlich. Dazu befreite es zu sehr.
Die ersten Worte waren ein wenig holprig, doch als ihre Stimme sich fing, wurde sie lauter und schmiegte sich wie angerauter Samt an die melodiösen Takte und formten sich zu einer eigenen Musik, die mit dem wohlgeformten und runden Gesang klarer Stimmen absolut nichts gemein hatte. An Sams Stimme war nichts engelhaftes, nichts unschuldiges; sie war ebenso schwermütig, wie sie roh war. Kräftig in der Klangfarbe, so rau in der Intonation. Wenn es wenigstens gut klänge, hatte ihre Großmutter immer geschimpft; wenn man damit wenigstens etwas anfangen könnte, hatte sie gehöhnt, doch für Sam war ihr eigener Gesang immer genug gewesen. Dieser wesentliche Teil in ihr, den ihr niemand nehmen konnte, egal wie unkonventionell, wie rau diese Stimme im Vergleich war, denn sie konnte viel, weil sie sich viel beigebracht hatte.
Heimlich, auf dem Nachhauseweg.
Nachts, wenn sie sich auf das Dach schlich, um noch eine zu rauchen.
Wenn ihre Großmutter aus dem Haus war.
Und es hatte etwas befreiendes, dieses Etwas, das in ihr schlummerte, hinauszusingen, so inbrünstig, dass sie mittlerweile lauter war, als der Kassettenspieler, denn hier waren nur Levi und der Wind – und während sie Levi vertraute, war es der Wind, der ihre Worte hinforttragen und zu einem bedeutungslosen Flüstern verkommen ließe, ehe es irgendwelche anderen Ohren erreichte.
Das war gut so.
Ihr Brustkorb erbebte in Leere, als das letzte Wort sich über ihre Lippen geschlichen hatte und Sam musste durchatmen, sich dieses Herz fassen, ehe sie sich zu Levi umdrehte und ihn ansah. Lächeln wollte, aber ihre Lippen nur in eine kurze Grimasse des Bemühens verzog, denn da war Angst.
Aber Levi lachte nicht und er beäugte sie auch nicht mit dieser offenen Ablehnung, die ihr geläufig geworden war. Die Hände in die Taschen seiner Jeans geschoben, sah er sie schweigend an und Sam wurde beinahe schwindlig, in dem Versuch, den Ausdruck in seinem Blick zu lesen, weil ihr genau das so wichtig war.
„Wow“, stieß er dann aus, ein wenig atemlos. Sam spürte, wie sich ihre Hände entkrampften, doch blinzeln musste sie trotzdem. Ihre Schultern sanken sich und sie merkte, dass sie nicht wusste, wohin mit ihren Händen. Aber den Blick von Levi abwenden konnte sie auch nicht. Sie war ebenso entblößt wie blank.
„Ich habe noch nie vor jemanden gesungen“, gestand sie.
„Wer hat es dir beigebracht?“
„Niemand.“
„Was meinst du, mit niemand? Da muss es doch Einflüsse gegeben haben. Jemand-„
„Also… ich mir selbst. Alleine“, sie stockte. „Meine Grandma hat mir verboten zu singen. Wegen meiner Mutter. Ist… etwas kompliziert.“
Sie mochte Levi. Levi war ihr einziger Freund. Aber die Angst war da, wie sie immer blieb. Die Angst zu verjagen.
Die Angst dadurch zu verlieren.
Levi rieb sich das Kinn. Aber da war dieser Funken in seinen Augen. Etwas Waches, das vorhin noch nicht dagewesen war.
„Erzähl es mir“, fordert er sie dann auf.
„Wovon?“, fragte Sam.
„Von deiner Grandma. Deiner Mutter. Von allem. Niemand singt so, wie du, ohne eine Story zu haben. Ich will sie hören.“
Vertrauen breitete sich in Sam aus, als sie ihren Kopf in diesem letzten Versuch zur Seite neigte, etwas zu suchen, das nicht da war. Sie kannte Levi; seitdem Tag im Schulkorridor war er da und in ihrem Leben zu etwas geworden, dass sie sich nicht erhofft hatte, aber nicht mehr verlieren wollte. Und auch jetzt nicht würde.
Ihre Füße nahmen ihr die Entscheidung ab, als sie sich in Bewegung setzte.
Es fiel ihr nicht schwer, Levi reinzulassen.
Sie wollte es.
Sie ergriff die Zigarette aus der halbvollen Schachtel, die er ihr auffordernd hinschob und als das Feuerzeug klickte und ein weiteres Mal die Glut aufglomm an diesem Tag, begann Sam, ihn hineinzulassen – und erzählte.

*



„Wie - du gehst?“
Als Sam sich auf der Treppe herumdrehte, schlang sie die Arme um ihren Körper und suchte seinen Blick deshalb mit so einer inbrünstigen Intensität, weil da etwas in seiner Stimme lag, dass sie grundlegend erschütterte. Sie konnte sein Zögern nicht lesen und wusste nicht, was es war, dass er hier damit sagen wollte. Doch etwas in ihr wappnete sich. Etwas in Sam ahnte bereits. Und als sie ihre Hände in den Stoff ihres T-Shirts krallte und ihr Kinn aufrechter schob, wusste ihr Unterbewusstsein längst, dass das hier nicht nur drohte, ein Abschied zu werden, sondern dass es einer war.
„Levi?“ Sams Stimme war dünn, aber eindringlich.
„Sam, was soll ich tun?“, antwortete er dann leise, „Sie wollen mich nicht mehr. Es läuft schon länger mies.“
„Seit wann denn?“
„Schon, seitdem ich dort bin, ich-„
„Du meinst also, schon so lange, seitdem wir uns kennen.“ Sams Antwort klang bitterer, als sie das wollte, aber sie konnte sich nicht helfen. Es stach etwas in ihrer Brust und es fühlte sich an, wie Verrat. Sie senkte den Kopf und versuchte, sich dieser Situation bewusster zu werden. Dass, was er ihr sagte, nicht nur zu verarbeiten, nicht einfach mit sich selbst geschehen zu lassen, sondern zu kontrollieren. Doch so einfach war das nicht, merkte sie.
Nicht mit Levi.
„Ja“, gab er zu und schob seine Hände in die Hosentaschen.
„Und wie geht es jetzt weiter?“
„… Sie geben mich ab. Es ist natürlich komplizierter als das, aber im Endeffekt ist es das ja“, er lächelte sein typisch schiefes Grinsen und Sam kämpfte den Drang nieder, es ihm mit einer Ohrfeige aus dem Gesicht zu wischen, weil sie es so unangebracht fand, dass sie schreien wollte.
„Okay. Aber dann gehst du einfach zu einer anderen Familie, oder?“
„Sam.“
Ihre Finger bohrten sich mittlerweile so durch den Stoff, sodass kein Zweifel mehr daran bestand, dass der ruiniert war. Längst. Sam wollte ihn nicht ansehen, aber als er ihren Namen wiederholte, geflüstert, mit dieser Sanftheit darin, überwand sie sich und die Wärme, mit der ihr Levis Augen entgegensahen, riss ihren Widerstand ein und das erste Nass kämpfte sich hoch.
„Nein, ich will das nicht“, protestierte sie und trat einen defensiven Schritt zurück. „Du kannst nicht gehen. Du machst deinen Abschluss. Bald. Das ergibt doch keinen Sinn.“
Levi verzog seine Lippen und löste eine Hand aus der Hosentasche und wollte nach ihr greifen, aber Sam schüttelte den Kopf und entfernte sich nur noch mehr.
„Es interessiert sie nicht, okay? Ich… scheiße Sam, was soll ich sagen? Ich bin nicht leicht und es ist anders mit Leuten, die nicht dein Fleisch und Blut sind. Wenn du Erwartungen nicht triffst, dann gibt es da einfach keine Gründe an irgendwas festzuhalten. Sie kassieren Geld dafür ab, dass sie mich haben und wenn ich weg bin, kriegen sie eine andere arme Sau, die ihnen den nächsten Urlaub mit ihrer traurigen Geschichte finanziert. Mehr… mehr interessiert die wenigsten“, er stockte, fluchte aber dann, „Scheiße. Ich habe es einfach auch satt, mich rumschubsen zu lassen, okay? Und wenn sie mich nicht mehr wollen und zurück in dieses Dreckssystem schubsen, kann es bedeuten, dass ich überall lande.“
Sam hörte Levis Ohnmacht deutlich heraus, aber als er das, was sie befürchtete, laut aussprach und aus dieser Angst diese Realität machte, fühlte sie, wie sich ihre Mauern automatisch hochzogen.
„Warum hast du denn nichts gesagt!?“
„Was würde es denn ändern?“
„Es würde die Situation hier ändern, zum Beispiel!“, fuhr sie ihn an. „Was soll das hier werden? Meinst du, du kannst hier einfach mit mir Schluss machen und das war es dann? Meinst du, so läuft das? So kann man mit Leuten umgehen?“
„Ich wollte ja, aber… die Behörden sind eingeschaltet und jetzt kann alles ganz schnell gehen, deshalb-„
„Deshalb dachtet du dir, du sagst es mal eben Sammie? Dass sie sich vorbereiten kann, wenn Levi morgen nicht mehr auftaucht?“ Sie funkelte Levi an, der wieder näher gekommen war, aber Sam hatte keine Lust und Sam würde sich damit nicht auseinandersetzen. Nicht jetzt.
„Fick dich, Levi Delaney. Dann bist du eben bald weg vom Fenster. Was juckt es mich? Auf solche Freunde scheiß ich.“
Er lief ihr nicht nach, als sie sich umdrehte und ihn auf den Treppen stehen ließ, hier vor der Schule, wo sie jeder sehen konnte. Levi rief nicht ihren Namen, um sie aufzuhalten, wie in einer dieser überdramatischen Kinofilme, bei denen sie immer so mit den Augen rollen musste. Aber es war gut so, dass er es nicht tat, denn das ließ Sam alleine mit den Tränen, die ihr über die Wangen jagten, als wäre sie ein gegrämtes Kind, dass man in eine Sandgrube geschubst hatte und das kein Zuhause hatte, nicht wirklich, wohin es gehen und sich bitterlich ausweinen konnte.
Sam schämte sich dafür.
Andauernd schob sie ihre Handrücken über die Lider und rieb diese fast wund dabei, weil sie nicht wollte, das man sie so sah; diese blöden Blicke nicht wollte und nicht gebrauchen konnte. Nicht jetzt. Vor allem wollte sie nicht Nachhause, weil ihre Großmutter ohnehin kein Interesse haben würde; sie zurück in die Struktur des Tages peitschen würde, der doch ohnehin keinen Sinn ergab.
Nicht mehr.
Sie fühlte sich verloren, als sie den weitläufigen Umweg über den Park ging. So sehr, dass sie sich auf eine Bank setzte und das Meer absichtlich in ihrem Rücken ließ, weil es sie zu sehr an gemeinsame Momente erinnerte. Die leere Zigarettenschachtel machte die Situation nicht besser, denn es ließ sich besser nachdenken, wenn sie rauchte und das musste sie, denn verdammt… was war Levi für sie eigentlich?
Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, dieses Verliebtsein, dass ihre Mitschüler aufführen ließ, wie die beeinträchtigsten Affen zur Paarungszeit und was sie alle so trieben, war erst wenige Wochen mit Catherine klar geworden, die ihre Eltern aus der Schule gezogen hatten, weil sie schwanger war. Aber führte Sam sich nicht auch blöd auf? Levi brachte sie zum Lachen und wenn sie sich an seiner Schulter anlehnte, genoss sie den Duft, den er verströmte und fühlte sich geborgen. Es gab niemanden, der sie so sah wie er, weil Sam sich niemandem je so offenbart hatte, wie sie das bei ihm getan hatte und sie bezweifelte, dass es anders wäre, hätte sie es trotzdem getan.
Aber sie wusste auch, dass sie ihn nicht so brauchte, wie Catherine ihren Aiden gebraucht hatte, als er sie weinend auf dem Schulhof hatte stehen lassen und warum war schwer zu beschreiben, aber sie wusste instinktiv, dass Catherines Schmerz ein anderer war, wie der ihrige nun.
Sam hob ihre Augen und ließ sich von dem sanften Spiel der grünen Blätter über ihr in ihre Gedanken mitnehmen, bevor sie die Augen schloss und versuchte, ihre Atmung zu normalisieren und sich selbst zu beruhigen.
Als Levi letzten Winter in ihr Leben getreten war, war es seitdem ein besseres. Sam, die sich geschworen hatte, niemanden zu brauchen, weil sie schlichtweg niemanden wollte, hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren bemerkt, wie es war, wenn man jemanden in seinem Leben hatte, der alles so wertvoll gestaltete. Ihr trister Vorhang, die Trostlosigkeit ihres täglichen Trotts hatte sich gelüftet und mit Levi war die Musik zurück in ihr Leben gekommen; sein wildes, enthusiastisches Gitarrenspiel, ein befreites Lachen. Und es hatte sich gepaart mit ihrem Gesang.
Sam hatte sich nie in ihrem Leben freier gefühlt. Wusste, dass Levi Ketten gesprengt hatte, die sie sich vielleicht zu sehr auferlegt hatte und seitdem explodierte selbst der einfachste Alltag in all diesen intensiven Sensationen. Und sie machten süchtig. Denn seitdem pulsierte da diese Gier, nicht einfach nur zu existieren, sondern zu leben. Alles so facettiert wie möglich wahrzunehmen.
Sie liebte ihn womöglich, war der Schluss, zu dem sie kam, als sie ihre Augen wieder aufschlug. Nicht so, wie Catherine Aiden. Aber anders. Und sie entschied, dass es nicht weniger intensiv war, nur, weil es anders war.
Sie war nicht bereit, das aufzugeben. Levi aufzugeben. Für ihn, weil sie wusste, dass sie es ihm schuldig war. Levi war gesellig, aber auch Sam wusste, dass er am Ende des Tages nur sie hatte. Und ihn im Stich zu lassen ging gegen alles, was sie sich geschworen hatte.
Als Sam sich von dem abgewetzten Holz schob und den Zopf aus ihren Haaren löste, entschied sie sich, dass sie ihm also zumindest einen Abschied schuldig war.
Zumindest das.


*



Sie schob Sandkörner vor die Spitzen ihrer Turnschuhe und ließ sich bereitwillig von der Laterne blenden, die ihren Körper in einen dimmen, flimmernden Schein hüllte. Es war schon spät und wenn sie Nachhause kam, würde sie der Ärger ihres Lebens erwarten. Doch Sam war gewillt, dass über sich ergehen zu lassen.
Als sie ihren Kopf neigte, legte sie ihn auf Levis Schulter ab. Sog den Duft ein, der sich mit dem Meersalz vermengte, der hier, so unmittelbar am Wasser, derart vorherrschte, dass er manchmal in der Nase brannte. Aber da war noch mehr; seine Stoffjacke, die nach dem billigen Aftershave roch, mit der er sie immer einparfümiert hatte, damit er nicht zu sehr nach Rauch stank oder das Frischewaschmittel seiner Pflegemutter, das seine weißen TShirts immer so blütenweiß wusch.
Die Melancholie des Augenblicks traf Sam hart und als sie seufzte, tat sie das, um erneute Tränen zu vertreiben.
„Das mit dir, das war was Besonderes, Levi“, flüsterte sie dann und erlaubt sich, den Kopf so zu neigen, dass sie ihr Gesicht jetzt ganz an seinem Stoff vergrub. Sie presst ihre Lider zusammen und fasste sich. Als sie ihren Kopf wieder hob, spürte sie seinen Seitenblick, aber sie erwiderte ihn nicht. Er lachte nur und obwohl er matt klang, klang er nicht traurig.
Manches Mal verdammte sie ihn für seinen Optimismus. Als Sam ihn stieß, wusste Levi, wofür.
„Ich meine es ernst. Das…“, sie schluckte, „ich hatte noch nie einen Freund und… aber selbst wenn, es würde nichts daran ändern.“
„Hör auf dich zu verabschieden. Bitte.“
„Nein. Ich…ich habe dich lieb, okay? Und ich muss dir das jetzt sagen, weil sonst sag ich es dir nie und vielleicht sehen wir uns ja auch nicht mehr und-„
„Sam-„
„Levi, bitte.“
„Sam“, unterbrach er sie wieder und sein Tonfall verlangte, dass sie ihren Kopf hob und ihn ansah. Sie fühlte sich gequält und ihr Magen rebellierte, weil sie das hier nicht wollte, aber Levis Blick war erstaunlich klar und das machte für sie keinen Sinn.
„Warum bist du nicht traurig“, fragte sie dann, „Man, du gehst und wir sehen uns vielleicht nicht mehr wieder-„
„Sam!“
„Nein! Ich war bei deiner Scheißpflegefamilie und wollte mich verabschieden und als sie mir gesagt haben, dass es zu spät wäre, ist mir der Arsch auf Grundeis gegangen! Ich brauche das jetzt, ich weiß nicht, wie ich sonst weitermachen soll, ich-„
Die Zigarette, die zwischen ihre Lippen gepresst wurde, ließ sie augenblicklich verstummen. Sam richtete sich auf und griff nach dem Filter und ihre Augen funkelten dabei. Doch während sie den Rauch ausblies und zu weiteren Worten ansetzte, ließ seine Reaktion alles in ihrem Hals ersticken.
„Ich gehe nicht.“
Sam sah ihn verständnislos an. Musterte die Reisetasche, die vor ihm stand und sah zu der Gitarre, die neben ihnen am Pfeiler der Straßenlaterne stand. Als ihr Blick zurück zu ihm glitt, umspielte ein wissendes Grinsen seine Lippen und Levi wurde wieder zu dem Levi, den sie kannte; dessen Magie sie sich nicht entziehen konnte und den sie in ihrem Leben behalten wollte, so sehr, dass sie bereit war, sich zum ultimativen Affen zu machen.
„Ich werde in ein paar Wochen Achtzehn“, fuhr er dann fort. „Hättest du mich vorhin nicht stehen lassen, hätte ich dir das sogar gesagt“, er schnalzte mit der Zunge, sie so offensichtlich damit mokierend, weil es eine ihrer schlimmsten Macken war. „Mir sagt niemand mehr, was ich zu tun oder zu lassen habe. Und das Risiko, mich in den paar Wochen an das andere Ende dieser gottverdammten Halbinsel schiffen zu lassen, gehe ich nicht ein“, grinste Levi wissend.
„Aber…“, Sam verstummte und schaute auf die Zigarette, die zwischen ihren Fingern ruhte und begann, an dem Filter herumzuspielen, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her zu rollen. „… was ist mit deinem Abschluss, Levi? Wie geht es jetzt weiter?“
„… komm schon Sam. Du weißt, wie es jetzt weiter geht“, brummte er leise und zündete sich eine Zigarette an und so gerne Sam nachgehakt hätte, als wüsste sie es nicht - sie tat es nicht. Sie fand es immer noch genauso mutig wie absolut dämlich, wie an dem Tag, als er ihr das erste Mal davon vorgeträumt hatte, aber nun, da es drohte, Realität zu werden, wusste sie nicht, was sie sagen wollte.
Sie schwieg. Lächelte dann aber.
„Okay, deine Noten waren wirklich mies. Ob sie dich da überhaupt am Hafen genommen hätten?“
Levi lachte. „Vermutlich nicht, hmn?“
Sam erwiderte seinen Seitenblick und lächelte.
Als erneut das Schweigen über sie hereinbrach, ließen sie beide es gewähren. Es war trotzdem eine Art Abschied, wusste Sam, denn Levi würde nicht zurück an die Schule kommen und alles, was es dort gab, hinschmeißen – auch die Idee, sich auf letzter Strecke vielleicht doch mit anderen in eine Schulband zusammenzurotten; der Musik, die sie machten, einen gemeinsamen Output zu geben.
Das würde er jetzt alleine tun.
Und obwohl da ein kleiner Stich da war, wusste sie, dass es besser so war, vorerst. Wie wäre es das immerhin nicht, wenn das Gegenteil bedeutete, dass er gehen würde.
„Ich gehe nach Lytham“, brach Levi nach gefühlten Minuten das Schweigen; dann, als die Zigarette längst niedergeraucht war und im Sand vor ihm ihre letzten rauchigen Atemzüge tat und sich schwach in den Himmel kräuselte. „Ich kann da bei einem alten Freund unterkommen. Habe ich schon abgeklärt. Kenne ihn aus der Zeit im Heim. Hat eine eigene Bude und alles. Außerdem ist Blake auch ganz gut in der Musikszene vernetzt.“
Sam nickte erneut und als sie schluckte, fühlte sich ihr Hals rau an und nicht deshalb, weil sie heute zu viel geraucht hatte. Aber Levi verstand und er neigte sich zu ihr und stupste sie gegen die Stirn, ehe er einen Arm um sie legte.
„Kein Abschied, okay? Nur bis ich volljährig bin und diesen Scheiß hinter mir lassen kann.“
Sie antwortete nicht, weil es dafür keine Antwort benötigte. Levi kam klar.
Aber jetzt, da alles geklärt war,… Sam auch.


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 Betreff des Beitrags:
Verfasst: Do 13. Jul 2017, 19:50 


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